Eine Landstraße kurz vor Hannover. Das Mädchen ist 15, heißt Christine und ist nicht mehr ansprechbar. Sanitäter bringen die Gymnasiastin in die Notaufnahme. Zur gleichen Zeit wird ein zwölfjähriger Junge eingeliefert, der Test ergibt 1,75 Promille. Innerhalb von zwei Stunden, zwischen 21 und 23 Uhr, kommen drei weitere Jugendliche an, alle haben viel zu viel Alkohol im Blut. Mehr, als ein Kinderkörper vertragen kann.
Es sind Szenen aus der Kinderklinik Auf der Bult in Hannover, aufgenommen von zwei Reportern für die ARD-Dokumentation „Saufen, bis der Arzt kommt“. Jedes Wochenende wiederholen sich die Szenen. Die einen kommen von Flatratepartys aus der niedersächsischen Provinz, die anderen direkt aus der Hannoveraner Innenstadt. Und die konnte am vergangenen Wochenende mit einer gewaltigen Zahl aufwarten.
37 Minderjährige wurden in der Nacht von Freitag auf Samstag von der Polizei in der City aufgegriffen. 17 von ihnen waren so betrunken, dass die Beamten sie vorübergehend in Obhut nehmen mussten. Zwölf wurden zu ihren Eltern gebracht. „Eine teure Taxifahrt“, sagt Heiko Steiner von der Polizeidirektion Hannover „Morgenpost Online“. Die Fahrt kostet die Eltern, je nach Entfernung, ab 40 Euro aufwärts – für manche Eltern das geringste Problem an der Angelegenheit, für andere schon das größte.
Die Reaktionen, sagt Steiner, seien völlig unterschiedlich. Für manche Mütter und Väter bräche eine Welt zusammen, wenn ihr Kind im Vollrausch per Polizeiwagen nach Hause chauffiert wird. Andere nehmen es fast teilnahmslos hin.
Die Versuche, gegen Alkohol und Gewalt in deutschen Innenstädten vorzugehen, sind zahlreich. Am Berliner Alexanderplatz gilt seit 2009 ein strenges Alkoholverbot mit regelmäßigen Kontrollen, seitdem haben Gewalt und Sachbeschädigung deutlich abgenommen. Die erste Stadt, die in Deutschland ein Alkoholverbot in der Innenstadt durchsetzen wollte, war Freiburg im Breisgau. Seit Sommer 2008 war es untersagt, in dem Kneipen- und Diskothekenviertel in der Innenstadt Bier und Hochprozentiges zu trinken. Dann zog ein Jurastudent vor den Verwaltungsgerichtshof, und das Urteil wurde gekippt.
Die Stadt Hannover hat ihr eigenes Konzept entwickelt. Der letzte sogenannte Sondereinsatz fand nun also am Wochenende statt. 70 Beamte kontrollierten zwischen 21 und sechs Uhr morgens 265 Personen. Bei einem 17-Jährigen wurde ein Wert von 2,69 Promille festgestellt, bei einem 16-jährigen Mädchen 2,51 Promille. In den Sommermonaten sind besonders viele Leute an den einschlägigen Plätzen unterwegs, doch selbst bei einem winterlichen Einsatz im vergangenen Februar kontrollierte die Polizei ganze 400 Männer, Frauen und Jugendliche.
"Tanzen statt Torkeln"
„Noch lässt sich nicht evaluieren, welchen Erfolg die Aktion hat“, sagt Heiko Steiner, glaubt aber fest daran, dass Hannovers Konzept langfristig aufgeht. Die Jugendlichen sollen nicht kriminalisiert werden, die Einsätze sollen aber ein Bewusstsein für Grenzüberschreitungen schaffen. Nicht nur auf brachiale Art mit Platzverweisen und Strafverfahren, sondern mit Aktionen wie „Tanzen statt Torkeln“ – mit Tanzeinlagen und Ausstellungswänden, die über Sucht informieren, und Geschicklichkeitsspielen mit einer „Rauschbrille“. Für Kinder, das heißt konkret für Menschen unter 14 Jahren, darf Alkohol nämlich überhaupt keine Rolle spielen, sagt Heiko Steiner von der Polizei Hannover.
Gegen das „Vorglühen“ auf Plätzen und Straßen können Polizisten und Ordnungskräfte vorgehen. Gegen das Saufen in Bars die Gastronomen. Auch in dem Punkt will Niedersachsen aktiver werden. Renate Mitulla, Geschäftsführerin vom Deutschen Hotel- und Gaststättenverband Niedersachsen (Dehoga), sagte „Morgenpost Online“, dass im Rahmen der neuen Kampagne „Alkohol, nur wenn’s Recht ist“ Schulungsmodule eingeführt wurden, durch die Kellner, Barkeeper, Türsteher, aber auch Verkäufer in Geschäften und Tankstellen lernen, wie man auf die Minderjährigen reagiert. „Die Kellner sollen nicht auf Paragrafen reiten, sie sollen den Kindern den Schaden vor Augen führen“, sagt Mitulla.
Einmal im Netz, immer im Netz
Stichwort Smartphone, an diesem kleinen Gerät lassen sich wunderbar Horrorszenarien vorführen. Zum Beispiel, wie ein hilfloser Teenager volltrunken von seinen Freunden fotografiert wird und das Foto prompt auf Facebook landet. „Einmal im Netz, immer im Netz“, sagt Renate Mitulla. „So kann man seine Zukunft ruinieren.“ Jeden Tag werden in ganz Deutschland narkotisierte Minderjährige aufgegriffen. Am Montagmorgen erst fand die Berliner Polizei einen 16-jährigen Jungen, der es im Vollrausch nicht mehr nach Hause geschafft und sich kurzerhand in einer Kindertagesstätte schlafen gelegt hatte. Wie er dahin kam, daran konnte er sich nicht erinnern.
Eine Großstadt wie Berlin, sagt Inga Bensieck von der Fachstelle für Suchtprävention Berlin, befördert die mangelnde soziale Kontrolle. Den Einsatz in Hannover hält sie für eine gute Idee: „Die 37 aufgegriffenen Kinder und Jugendlichen sind eine enorm hohe Zahl – bei solch konzentrierten Aktionen wird doch deutlich, wie hoch die Dunkelziffer im Vergleich mit den Durchschnittszahlen ist.