Vor den Augen entsetzter Zuschauer tötete in Florida der Orca “Tilikum“ seine Trainerin. Kritiker sagen, die Langeweile in der Gefangenschaft mache die Tiere zu Killern. Mitleid ist Raubtieren wie “Tilikum“ fremd. Selbst wenn sie noch so lustig oder menschlich daherkommen: Sie leben vom Töten.
Wer für heute oder die nächsten Tage geplant hatte, in Orlando einer Show mit einem Schwertwal beizuwohnen, der muss nun kurz etwas weiter nach Süden jetten. Im Seaquarium von Miami, ebenfalls im US-Bundesstaat Florida gelegen, steigt Robert Rose weiterhin alle vier Stunden zu seiner „Lolita“ ins Becken. Der Orca schmeißt, ganz in Routine, mit der Nase seinen Wal-Trainer halsbrecherisch hoch in die Luft. „Ich mache das seit 20 Jahren“, sagt Rose. Lolita sogar schon viel länger: fast seit ihrer Geburt in Gefangenschaft vor 40 Jahren. Die Sonne scheint. Das Publikum ist begeistert. Als wäre nichts geschehen. War da was?
Seit vergangenem Mittwoch werden Orcas, auch Schwertwale genannt, weltweit wieder bevorzugt mit ihrem Drittnamen bezeichnet: „Killerwal“. Ein Artgenosse Lolitas, Tilikum, den man vor 30 Jahren bei Island einfing, hat einen Menschen getötet: die Wal-Trainerin Dawn Brancheau, die in dem Becken von SeaWorld in Orlando ebenfalls Kunststücke und halsbrecherische Spielchen mit ihren Walen machte, auch seit vielen Jahren, auch sehr routiniert. Allerdings: Tilikum hatte zuvor bereits zweimal Menschen getötet. 1991 ebenfalls einen Trainer und 1999 einen Mann, der sich nachts auf das Gelände der Wal-Show geschlichen hatte. Beide Male waren die Opfer ins Wasser gefallen. War dies jedes Mal der Schlüsselreiz, der den Orca in den „Killerwal“ verwandelte? Der bei Tilikum, den man stets hungrig ins Becken schickte, den Beutetrieb weckte, wie bei seinen Artgenossen draußen im Ozean, wenn sie Jagd auf Seebären, Delfine oder sogar andere Wale machen?
Die Polizei von Orlando sagte am Donnerstag auf einer Pressekonferenz, auch Dawn Brancheau sei ins Wasser gefallen. Doch die Augenzeugen nannten durchweg eine andere Version: Die Trainerin habe am Beckenrand gekniet und den Kopf des Orcas liebkost, als das fünfeinhalb Tonnen schwere Tier sie plötzlich an ihrem Pferdeschwanz ins Wasser zog, sie ins Maul nahm, schüttelte und schließlich längere Zeit unter Wasser drückte. Einen Schock erlitten die SeaWorld-Besucher, die im Untergeschoss durch ein Fenster in der Beckenwand das Geschehen in der Tiefe beobachten mussten.
Nicht hineingefallen, sondern ins Wasser gezerrt. Handelte es sich also um einen bewussten Tötungswillen bei Tilikum? Weltweit melden sich nun jene Tierschutzgruppen zu Wort, die seit vielen Jahren die Haltung von Meeressäugern zu Showzwecken bekämpfen, die fordern, alle Delfinarien zu schließen, weil die Haltung der gewaltigen Tiere, zur Freiheit in allen Ozeanen geboren, grausam sei. Und die sich durch solche Vorfälle bestätigt sehen. Der Geschäftsführer der Wal- und Delfinschutz-Gesellschaft (WDCS), Nicolas Entrup, sagt: „Orcawale sind keine Killer. Erst die Freizeitindustrie macht sie dazu.“ Die Langeweile treibe sie zum Töten.
In der Tat fiele es schwer, die Tierhaltung in Delfinarien oder Wal-Shows als artgerecht zu bezeichnen. Die Becken sind viel zu klein für die Tiere von einer Länge bis zu acht Metern. Sie unterscheiden sich von den Freigehegen, mit denen die Zoologischen Gärten gegenseitig darum wetteifern, die Reviere in freier Wildbahn nachzuempfinden, wie ein mittelalterliches Burgverlies vom heutigen offenen Vollzug. Und den Meeressäugern, die – wie die Wale – in viele Hundert, auch mal tausend Meter abtauchen, fehlt nicht nur die Weite, sondern auch die Tiefe, einfach auch mal andere Druckverhältnisse.
Verhaltensforscher sind sich allerdings nicht sicher, inwieweit die harschen physischen Einschränkungen verschlimmert werden durch eine Art Wissen um die eigene Gefangenschaft. Können Tiere Langeweile empfinden? Könnte sie zu Depressionen führen?
„Wenn sich Affen langweilen würden, wären sie Menschen“, sagte der französische Philosoph Voltaire. Zwar ohne ausgewiesene Expertise, doch liegt er damit nicht sehr weit entfernt von den meisten Zoologen, die ebenfalls davon ausgehen, dass die Evolution die Tiere in erster Linie darauf programmierte, Energie zu sparen, sich ohne großen Aufwand Futter beschaffen zu können und vor allem: sich am sicheren Orte aufzuhalten. Sinnlose Spaziergänge sind, sofern das Futter angeliefert wird, ihre Sache nicht, sie kosten Kraft und bergen Gefahren, wie man auch außerhalb des Zoos beobachten kann. Freilandhühner ziehen den Aufenthalt im Stall vor, und die kleinen Nager im Kinderzimmer wissen die Geborgenheit des Käfigs auch bei offenen Klappen zu schätzen. Tiere im Zoo haben eine erheblich längere Lebenserwartung als ihre Artgenossen in Freiheit, dies gilt weitgehend auch für Meeressäuger.
Im Falle der auf engstem Raum gehaltenen Wale, Delfine und Robben indes spricht unter Tierschutzaspekten vieles dafür, die Anlagen zu schließen. Ob man den seit Jahrzehnten darin lebenden Tieren damit einen Gefallen tut, ist allerdings eine andere Frage. Der Filmstar Keiko, der in dem Hollywoodstreifen „Free Willy – der Ruf der Freiheit“ die Hauptrolle spielte, hatte nach seiner tatsächlichen Freilassung keinen Anschluss mehr an Gruppen von anderen Walen und suchte zügig wieder die Nähe von Menschen. Nach wenigen Monaten im offenen Meer allerdings bekam er eine Lungenentzündung, verweigerte die Nahrung und starb. Ob andere heute in Gefangenschaft lebende Meeressäuger im Falle ihrer Auswilderung bessere Aussichten hätten, darf bezweifelt werden – was allerdings nichts über die Berechtigung aussagt, weiterhin neue Showstars in freier Wildbahn einzufangen oder Nachwuchs in Gefangenschaft zu züchten. Tilikum, obwohl von aggressiver Art, war auch ein „Zuchtbulle“.
Ethologen warnen davor, menschliche Wertmaßstäbe auf die Tiere zu übertragen – etwa mit der Behauptung, erst der Mensch mache die Schwertwale zu Killern, die Tierschützer aufstellen. Sie meiden aus falsch verstandenem Respekt den Begriff „Killerwal“, gegen den der Orca vielleicht gar nichts einzuwenden hätte. Er hat nichts gegen das Killen und betreibt es sogar spielerisch. Pinguine, andere Großvögel, Robben, Delfine – je nach Kräfteverhältnis wirft er seine Opfer durch die Luft, wie die Katze es mit der Maus treibt, der sie auch immer wieder eine kleine Chance gibt, sie zehn oder zwanzig Zentimeter flüchten lässt, bevor sie wieder zuschlägt. Grausam. Mitleid ist Raubtieren fremd. Sie leben vom Töten.
Manche Tiere sind uns gefährlicher als andere, manche weniger, je nachdem, ob wir in ihr Beuteschema passen oder nicht. Orcas gehören sicher zu den Arten, denen wir mit großem Respekt begegnen sollten. Wie auch Tiger, die – so erst kürzlich geschehen – sich bei einer Dinnershow auf einen gefallenen Dompteur stürzen oder auch mal zubeißen, wenn ein Kollege seinen Kopf für den Gruseleffekt allzu tief in das Maul der Kreatur steckt.
Unfälle von Menschen mit Orcas sind häufiger als mit anderen Meeressäugern. Meist blieb es bei Verletzungen. Von den vier bekannt gewordenen mit tödlichem Ausgang gehen jedoch drei auf das Konto von Tilikum. Bei einem vierten Fall, als ein Orca-Trainer Heiligabend 2009 in Teneriffa starb, ist ungeklärt, ob der Wal im Becken überhaupt „schuldig“ war.
Bei SeaWorld in Orlando wird man sich fragen, ob es zu verantworten war, Tilikum auch nach zwei tödlichen Unfällen mit ihm weiter in Shows einzusetzen. Ob es nun auch bald wieder weitergeht, ist noch unklar.