Der “Ehrenmord“ an Morsal Obeidi war eine heimtückische Tat aus niederen Beweggründen. So sieht es das Hamburger Gericht und hat den angeklagten Bruder der getöteten Deutsch-Afghanin zu lebenslanger Haft verurteilt. Den Eltern sprach er eine “hohe moralische Mitschuld“ zu.

Zeugen haben ausgesagt, Gutachter gesprochen, Sachverständige wurden angehört: Der Prozess um den Fall Morsal. war auch der Versuch, die Psyche eines Fremden zu ergründen. Doch trotz der Fülle an Befunden, Gutachten und Beweisen bleibt Beobachtern vieles fremd.

„Wegen euch Deutschen habe ich heute keine Schwester mehr!“, ist so ein Satz, der die Zuschauer im Saal in tiefer Ratlosigkeit zurücklässt. Es ist Morsals jüngerer Bruder, der ihn hinausschreit, als der Richter die Urteilsbegründung verliest. Als Sicherheitsbeamte ihn aus dem Zuschauerraum hinausführen wollen, schlägt er um sich. Ein Verwandter hält ihn fest und schiebt ihn aus dem Saal. Zurück bleibt das Wehklagen von Morsals Mutter.

Für den sogenannten Ehrenmord an der 16-jährigen Deutsch-Afghanin hat das Hamburger Landgericht den Bruder zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Richter sprachen Ahmad-Sobair Obeidi des heimtückischen Mordes aus niederen Beweggründen schuldig.

Als der Vorsitzende Richter Backen das Urteil verkündet, tun sich unsichtbare Gräben zwischen den Zuschauern auf: Einige klatschen und fallen sich erleichtert in die Arme. Andere schreien auf, weinen und stürzen aus dem Saal. Auch der Angeklagte selbst verliert die Fassung. „Was ist eine Ehre, was ist das?“, ruft er. Als der Richter betont, ein solcher Mord sei auch in Kabul strafbar, erwidert er, dort wäre er schon längst wieder frei. In Richtung des Staatsanwalts zeigt der 24-Jährige immer wieder seinen Mittelfinger.

Die Richter sahen es als erwiesen an, dass der junge Mann seine Schwester am 15. Mai 2008 aus Wut über ihren westlichen Lebensstil auf einen Parkplatz in Hamburg-St. Georg lockte und mit 23 Messerstichen gezielt tötete. „Für uns gibt es keinen Zweifel daran, dass der Verurteilte seine Schwester tötete, um die Ehre der Familie wiederherzustellen“, sagte der Vorsitzende Richter Wolfgang Backen.

Die Straftat sei als Mord zu werten, weil der Angeklagte sowohl heimtückisch als auch aus einem niedrigen Beweggrund handelte. „Dabei gilt die Tötung eines Menschen aus Gründen der sogenannten Ehre nach den Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft in Deutschland jedenfalls dann als niedriger Beweggrund, wenn der Täter mit den deutschen Rechts- und Wertvorstellungen vertraut ist. Dies trifft auf den Angeklagten, der bereits viele Jahre in Deutschland lebt und auch hier zur Schule gegangen ist, zu“, fügte der Richter an.

Er machte damit deutlich, dass es sich bei dem Fall Morsal nicht – wie die Verteidigung vortrug – um einen Geschwister-Konflikt handelte, dessen Final in einer Affekttat gipfelte, sondern um die Hinrichtung einer Frau, die gegen die Regeln der Familie verstoßen hatte.

Mit seinem Urteil folgte das Gericht überraschend dem Antrag des Staatsanwalts. Das ist in diesem Fall ungewöhnlich, weil die Richter einerseits die entlastende Gutachterin als einzige Sachverständige anerkannt haben, ihr dann aber in geringem Maße inhaltlich gefolgt sind.

So teilt das Gericht zwar die Einschätzung der psychiatrischen Sachverständigen Dr. Röhl, dass der Angeklagte unter einer emotional instabilen sowie unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leidet. Es teilt jedoch nicht die Meinung der Sachverständigen, der Angeklagte sei in seiner Steuerungsfähigkeit zur Tatzeit erheblich eingeschränkt gewesen.

Die Verteidigung, die auf Totschlag und verminderte Schuldfähigkeit plädiert hatte, will Revision einlegen. Sollte der Fall noch mal aufgerollt werden, dann vor dem Bundesgerichtshof. „Die Frage ist, ob die Kammer bei ihrem Urteil rechtsfehlerfrei vorgegangen ist“, so Rechtsanwalt Thomas Bliwier. Es könne nicht sein, dass das Gericht einer Gutachterin erst hohe Sachkompetenz attestiere – und dann ein anders gelagertes Urteil fälle. Die Sachverständige hielt den 24-Jährigen für vermindert schuldfähig.

Am Ende der Urteilsbegründung ließ es sich Richter Backen nicht nehmen, auch auf die Rolle der Eltern einzugehen. Über ihre Schuld habe das Landgericht zwar nicht zu befinden, sagte er. „Aber wenigstens eine hohe moralische Mitschuld trifft sie.“ So hätten sie ihren ältesten Sohn möglicherweise „zum Vollstrecker ihrer Erziehungsmethoden“ gemacht. Als die Sitzung geschlossen wird, verliert der Verurteilte völlig die Beherrschung. Er schreit den Staatsanwalt an: „Du Hurensohn. Ich f... deine Mutter.“

Völlig außer sich war die Mutter. Als sie nach der Verkündung aus dem Saal rennt, versucht aus dem Fenster zu springen, versucht über das Geländer der Treppe im Gerichtgebäude zu klettern, von Verwandten weggetragen wird und schließlich draußen schreiend auf die Knie sinkt, blitzen die Lichter der Kameras. Zurück bleibt das Gefühl, dass die Verurteilung des Sohnes als schmerzhafter empfunden wird als der Tod der Tochter.