Berliner Morgenpost

The Haus & The Zeitung

Ein altes Bankgebäude wird zum Kunstprojekt und jetzt auch die Berliner Morgenpost

The Haus - Berliner Morgenpost
The Haus - Berliner Morgenpost

The Haus & The Zeitung

Ein altes Bankgebäude wird zum Kunstprojekt - und jetzt auch die Berliner Morgenpost

Seit Wochen begeistert das temporäre Kunstprojekt „THE HAUS“ an der Nürnberger Str. 68/69 die Berliner. Noch bis zum Sommer kann man dort auf fünf Etagen Räume besichtigen, die von 165 Künstlern aus Berlin und der Welt gestaltet wurden – dann wird das Haus abgerissen. Die „Berliner Morgenpost“ hat mehr als 20 Künstler aus dem „Haus“ eingeladen, die Sonntagsbeilage „Berliner Illustrirte Zeitung“ zu gestalten.

Diese Kunstwerke wurden exklusiv für die Berliner Morgenpost angefertigt.
  • DeeDeeKid

    Berlin, das sind wir, die Berliner. DeeDeeKid, der selbst aussieht wie ein Kreuzberger aus dem Styleblog – Wollmütze, die nur bis knapp über die Ohren reicht, Oberlippenbart, Second-Hand-Jeansjacke – malt seine Berliner, wie sie ihm täglich auf der Straße begegnen: Foodora-Lieferanten, Iro-Punker, Flaschensammler, Kopftuchträgerinnen, Longboarder, Take Away-Kaffee-Gehetzte. Das ganze Gewimmel arrangiert er auf einen Totenkopf. Das soll so etwas wie das Gerüst der Stadt sein, sagt DeeDeeKid, alias Niklas Coskan. „Aber eigentlich ist so ein Totenkopf einfach nur eine ziemlich coole Form!“ Coskan, Jahrgang 1989, verdient sein Geld als Illustrator – wie so viele der Künstler in The Haus. Sein Zeichnungen würden gut auf der Unterseite eines Skateboards passen, oder auf das Plattencover einer Punkrock-Band. Comicfiguren mit riesigen Köpfen, Augäpfel die aus dem Augenhöhlen treten, Lausbubenlächeln und Rotzgörengrinsen. In Raum 105 von The Haus ist DeeDeeKid seinem Stil treu geblieben.

  • El Bocho

    Romantik. Darum geht es bei El Bochos Serie von Frauenporträts. Er plakatiert sie in die Stadt und wenig später reißt sie jemand ab, sind sie weg. Wie im richtigen Großstadtleben. Flüchtige Begegnungen, Blicke, Erinnerungen. Es sind Menschen und ihre Geschichten, die er in seiner Stadt, in Berlin, trifft und dann zeichnet. In The Haus etwa. Die Berliner Streetart-Szene, die laut El Bocho in den letzten Jahren eingeschlafen ist, hat im Projekt der Dixons wieder zueinander gefunden, einen neuen Impuls bekommen. Er selbst hat sich alle Freiheiten genommen, die man ihm in The Haus gegeben hat. Er wollte experimentieren. Nicht schon wieder ein Frauenporträt. Stattdessen riss er die Wand auf, ließ die Neonleuchten von der Decke mitgehen, hinterließ einen Entschuldigungsbrief in Schuljungenhandschrift. „Liebe andere Menschen, ich brauche leider die vielen Neonlampen, weil ich sonst im Dunkeln arbeiten muss.“ Jetzt stehen die Neonlampen in einer Ecke in seinem Atelier. Sie passen nicht an die Decke.

  • Steffen Seeger

    Steffen Seeger hat nichts in das Haus in der Nürnberger Straße mitgenommen. Das Material für seine Rauminstallation rupfte sich aus den Wänden des alten Bankgebäudes. Zwei Wochen tigerte er durch die Etagen, riss Meter um Meter alter Datenkabel aus Wänden, Schächten, Decken. Seeger nennt sie die Nervenbahnen des Hauses.Er trug sie in Raum 412 zusammen und dachte: wenn alle Kabel hierher führen, dann ist mein Raum so etwas wie das Zentrum des Hauses. Auf dem Boden formte er orange Kabel zu einem Herz. Data Dada heißt sein Werk. Seeger hat mit Graffiti begonnen und eine Technik entwickelt, die er „One-Line-Drawing“ nennt, Schriftzüge, in einer Linie gemalt. Heute arbeitet er vor allem als Illustrator und in Galerien. Für The Zeitung hat er nochmal Bezug auf seine Arbeit in The Haus genommen und Berlin eine Liebeserklärung gemacht. Die Kabel: „Meine ganzen Freundschaften, Beziehungen, Wege durch die Stadt, alles was mich mit der Berlin vernetzt“. Die dritte Ebene, der dunkle Hintergrund gibt all dem seine Tiefe.

  • Super Bad Boys

    Old School, die alte Graffiti-Schule, das ist der Stil der Super Bad Boys. Tags, comichafte Figuren, bunte, ausladenden Schriftzüge. Dreizehn Künstler zählt die Crew, ihren Kern hat sie in Berlin, Ausleger im Ruhrpott, Hamburg, Bremen. Seit ihrer Gründung vor drei Jahren haben sie ihre Bilder auf Wände in New York, Dublin, Sibirien oder China gemalt. Ihren Raum in The Haus machten sie zu etwas zwischen begehbarem Graffiti und Rauminstallation. Dabei ließen sie nicht einmal die Fensterjalousien in ihrer ursprünglichen Farbe. Für The Zeitung vertritt Skenar73 die Crew. Er malt ein Berlin, wie es die Sprayer lieben. Rau, ungebügelt, dreckig. Ein Bürgersteig in Kreuzberg, ein Giebelhaus mit bröckelnder Fassade, von oben bis unten vollgesprüht. Eine Farbschicht überlagert die andere: für Skanar73 eine Allegorie auf die Geschichte der Stadt, die sich immer wieder neu erfindet. Auf die Brandwand auf Papier malt er die Graffiti-Pseudonyme aller Mitglieder der Super Bad Boys.

  • Innerfields

    Innerfields, das sind Jakob Bardou, Holger Weißflog und Veit Tempich, drei bärtige Berliner Jungs. Häuserwände sind ihr Ding. Große Häuserwände. Darauf malen sie Menschen, hyperrealistisch - mit unerwarteten Brüchen. Auf einen Plattenbauturm in Kiew, Hauptstadt eines Bürgerkriegslandes, sprühten Innerfields eine Umarmung - ein Umarmender fehlt. Auf dem Dach des Hochhauses: ein Peace-Zeichen in der Größe eines Hubschrauberlandeplatzes. Auf einer Brandwand in Plauen sitzt ein Kleinkind, blickt nach oben, auf eine Hand, die ihm eine Erdkugel reicht - sie ist abgenagt, wie ein Apfelbutzen. Ein Motiv taucht immer wieder in ihren Werken auf: Smartphones. „Nichts hat unseren Alltag in letzter Zeit so umgekrempelt wie die neuen Medien“, sagt Weißflog. Innerfields sehen sich als Beobachter gesellschaftlicher Veränderung, sie greifen sie auf, spitzen zu. Und was beobachten sie in Berlin? Paradiesvögel. „Berlin hat dieses extrem Extrovertierte“, sagt Bardou. Und Tempich malt: Bushido-Frisur, Latte Macchiato, Laptop. Und noch ein Selfie für die Timeline.

  • Ghettostars

    Atze, Icke, Keule, Molle, Schrippe, Töle... Niklas Beckert nimmt sein Berlin beim Wort. Bevor er den ersten Strich für sein Bild in The Zeitung zieht, scrollt sich Beckert gut eine Stunde durch ein Online-Wörterbuch, sucht nach Wörtern, die ihm, dem Veteranen der Berliner Graffiti-Szene, original berlinerisch vorkommen. Dazu Berliner Originale: Didi Hallervorden, Knautschke, das weltkriegsüberlebende Flusspferd aus dem Berliner Zoo, Hertha. In der Mitte der Name seiner Graffiti-Crew Ghettostars oder GHS: Zwölf Sprayer gehören dazu, teils illegal an Zügen und Wänden zugange. Die Gruppe gibt es seit über 25 Jahren. Beckert alias BAS2 war schon seit Anfang der Achtziger aktiv. Er gibt Sprayer-Workshops an Schulklassen aus aller Welt. Geld verdient er mit seiner zweiten Leidenschaft. In seinem Laden in Kreuzberg verkauft rare Sneaker-Schuhe. Die Ghettostars haben sich dem Graffiti-Stil der alten Schule verschreiben, verschnörkelte, fett geblockte Spielereien mit dem eigenen Sprayer-Namen. In The Haus musste ein ganzer Gang in Etage 2 dafür herhalten.

  • DeerBLN

    Christian Rothenhagens Berlin verschwindet. Der Grafikdesigner und Maler nennt sich selbst ein „Mitte-Kid“. Das Berlin, das er liebt, friert er ein. In fotorealistischen Bleistiftzeichnungen. Wie dieses Eckhaus an der Kreuzung Invalidenstraße und Brunnenstraße. Keine Schönheit. Aber ein Stück Berlin. Dach und Obergeschoss haben den zweiten Weltkrieg nicht überlebt. Rothenhagen erinnert sich an die Familie, die im Erdgeschoss Tapeten und Tischdecken verkaufte. Heute steht dort eine geschwungene Glasfassade, dahinter: Luxusapartments. Rothenhagen will nicht als Früher-war-alles-besser-Motzer verstanden werden. Aber: „Rein achitektonisch greift diese Stadt ganz tief in die Scheiße.“ Respektlos würden gewachsene Strukturen zerstört, gebaut werde überall das Gleiche. „Hauptsache, es lässt sich viel Geld damit verdienen.“ Damit wären wir bei The Haus. Auch das wird eingerissen, wird Luxuswohnungen weichen. Gewissensbisse? „Nö, rund um den Kudamm gibt es ja nichts mehr zu gentrifizieren.“

  • Daniela Uhlig

    Daniela Uhligs erste Frage zum Thema Mein Berlin: „Wie ist das mit Nippeln?“ Sie malt am liebsten Frauen und die am liebsten nackt. „Frauenkörper sind nunmal unheimlich dekorativ“, sagt Uhlig. Und um Dekoration geht es bei ihrer Arbeit. Sie illustriert Magazine und designt Charaktere für Computerspiele. Für The Zeitung bleibt die Frau angezogen. Und sie erinnert an die Künstlerin selbst. Der Undercut, die Earplugs. „Hier kann man auch mit Mitte Dreißig so herum laufen, wie es einem gefällt. Das ist für mich Berlin“, sagt Uhlig. In ihrer Heimat, einer Kleinstadt in Brandenburg, müsse man in ihrem Alter längst normal zur Arbeit gehen, normal Kinder kriegen, sich normal kleiden und normal frisieren. Dann doch lieber Kreuzberg. Ihre Bilder entstehen meist mit Stift auf Papier, werden mit Tinte, Aquarell und Photoshop veredelt. Umso größer die Panik vor The Haus. Ein ganzer Raum! Sie teilte sich ihn mit einem Kollegen, Andrea Casartelli aus Como. Zwei Wochen sperrten sie sich ein, ließen an den Wänden nackte Amazonen gegeneinander antreten.

  • Case

    Case hatte seine Finger schon in über 20 Ländern im Spiel. Überall hat er überdimensionierte Wandbilder hinterlassen. Porträts. Und immer wieder Hände. Denn eine Geste sagt mehr als tausend Wörter verraten, so der Künstler, der mit bürgerlichem Namen Andreas von Chrzanowski heißt. „Und gleichzeitig bleibt Zeichengeber anonym, eine Hand lässt keine Vorurteile im Kopf des Betrachters entstehen“, sagt Case. Außerdem mache es einfach wahnsinnigen Spaß, riesige Hände in das Stadtbild zu malen. In The Haus konnte sich Case einen alten Wunsch erfüllen: Ein Bild über einen ganzen Raum zu malen, Wände, Decke, Boden. Paper Game heißt sein Werk. Eine Anspielung auf die Historie des Hauses als Bankgebäude. Hände greifen in den Raum. Bauen sie ein Kartenhaus auf oder reißen sie es ein? Für The Zeitung hat Case eine seiner intensivsten Berlin-Erinnerungen aufleben lassen. Ein Bild, das er 2015 an eine Brandwand an der Heinrich-Heine-Straße gemalt hat. Für Case symbolisiert es die Geschichte Berlins. Teilung und Wiedervereinigung.

  • Herakut

    Herakut machen Collagen und sind selbst eine. Die besteht aus Jasmin Siddiqu aka Hera und Falk Lehmann aka Akut. Seit 2004 arbeiten die beiden zusammen, verbinden ihre Ideen und Stile zu Geschichten auf Leinwänden, Brandmauern und in Galerien. In Raum 506 von The Haus haben Herakut Hasstiraden und Panikmache in einer Installation Gestalt gegeben. Sie kommen direkt aus Donald Trumps verzerrtem Gesicht, bahnen sich ihren Weg in ein dunkles Kinderzimmer. Der Titel: „We need to teach our children love...“ Es dreht sich viel um Kinder bei Herakut. In Heras Wunschvorstellung sind sie die selbstbewussten Retter unserer Zukunft. Die Augen für das Porträt in The Zeitung stammen von Frank Lehmanns Tochter. Sie strahlen, blicken entschlossen in die Zukunft. „Sie sieht aus, als könnte man auf sie zählen“, sagt Jasmin Siddiqu. Seine Stärke bezieht Berlin laut Herakut aus der Toleranz, die das Zusammenleben in der Stadt ausmacht. Mit Farben haben sie bewusst gespart, Haut- und Erdfarben stehen für Ehrlichkeit und Bodenständigkeit.

  • Joab Nist

    Aus dem Raum in der fünften Etage, den Joab Nist für The Haus gestaltet hat, dringt häufig Gelächter. Er ist von oben bis unten mit Zetteln tapeziert, die Nist in der Stadt gefunden hat. Der Kulturwissenschaftler versammelt sie seit 2010 in seinem Blog „Notes of Berlin“ (www.notesofberlin.com). Die lesen sich dann etwa so: „Hüpsche turkische Mann haben Geld & IPad. Möchte mit hüpsche Mädel in BERLIN Spass haben. Und ich habe Muskel auch“ - gefolgt von einer Handynummer. Oder so: „Wichtig! Egal wer es ist, aber hört endlich auf, auf dem Balkon zu kiffen, der Dreck zieht in meine Wohnung!“ Oder so: „Optimist sucht für sich und seine Tochter 2-Zimmer-Wohnung bis ca. 400 Euro warm“. Im Laufe der Jahre hat Nist so ein Archiv dafür geschaffen, was Berlin liebenswert macht: Skurrilität, Einfallsreichtum und Witz. Wie zum Beispiel auf diesem Zettel: „Lieber Nachbar mit der Trillerpfeife! Bitte versuche doch mal Deine Energie positiv einzusetzen anstatt unseren Schlaf zu stören. Mach mal’n Waldspaziergang, kümmere Dich um Bedürftige. Das hilft. Danke.“

  • Anne Bengard

    Anne Bengard sieht aus, als wäre sie ihren eigenen Bildern entsprungen. Alles hellrosa und hellblau. Die Kleidung, die Haare, die Augenbrauen. Was ihr Berlin ist? Bengard hat neun Jahre in England gelebt, der Heimat des Understatement, der Politeness. Und dann Berlin. Bämm. Alles direkt, nichts geschönt. „Eine Weile hatte ich daran zu knabbern“, sagt Bengard und: „Jetzt liebe ich sie, die Berliner Schnauze.“ Sie rührt ihre helllilarosababyblauen Wasserfarben an und pinselt drauflos. Als Vorlage dient das Foto einer argentinischen Freundin. Sowas von Berliner Schnauze, meint Bengard. Und weil das alles doch eine Herzensangelegenheit ist, kommen überall süße, niedliche, kleine Bärchen drum herum. Wenn Bengard nicht für The Zeitung malt oder eine Wand in The Haus gestaltet - beides Premiere - macht Bengard großflächige, figurative Aquarell-Porträts. Den Betrachter will sie mit seinen Ängsten und Vorurteilen konfrontieren. Oft sind das auch ihre eigenen. In The Haus etwa geht es um einen Alptraum, der Bengard immer wieder heimsucht: Zahnausfall.

  • Amigo

    Es ist kompliziert. Bevor Amigo alias Kadir Memis sein Berlin malt, verfällt er in einem Ledersessel in der Lounge von The Haus in eine Art meditativer Schockstarre. Über Kopfhörer dudeln ihm anatolische Lauten ins Ohr, er kneift die Augen zusammen, sein Edding schwebt über dem Papier, dann eine geschwungen Linie. Ein arabisches Schriftzeichen? Er schüttelt den Stift, lässt ihn sinken. Neues Blatt. „Es muss fließen“, sagt Memis. Er ist Choreograph und Kaligraf, lässt komplexe Gefühle und Konzepte tanzen. Auf der Bühne eines Tanzfestivals etwa lässt er Artikel 1 des Grundgesetzes performen. Aber was ist Würde für Deutsche? Was für Türken? Für The Zeitung malt er das Gefühl, das Berlin für ihn ist. Und um das zu erklären, muss er ausholen, bis in seine Kindheit als Hirtenjunge in Anatolien. Die ist im unteren Teil des Bildes dargestellt. Zwei Tänzer tragen ihn nach Berlin. Der Westen, das ist für Memis Grafitti, der Osten die Sonne. Dann ein Strich. Tod. Neuanfang. „Create and destroy, das ist Berlin für mich“, sagt Memis.

  • Akte One

    Papier ist eigentlich nicht so sein Ding. Akte One, ein bärtiger Schrank in Kapuzenpulli, ist ein Graffiti-Bomber der alten Schule. In den früher Neunzigern hat er die geschwungenen Buchstaben, das Sprühen im Schutz der Nacht für sich entdeckt. Heute sagt er, es war eine Suche nach der eignen Identität. Als Junge haben ihn seine Eltern von Ost-Berlin nach Bayern mitgenommen. Gleich nach der Wende wieder zurück. Diesmal nach Lichterfelde. Das Graffiti Jugendlichen auf der Suche nach Zugehörigkeit, nach Akzeptanz helfen kann, weiß Akte One nicht nur aus seiner eigenen Vergangenheit. An Schulen gibt er heute selbst Graffiti-Kurse. „Berlin, das ist für mich Straße, Brachen,Wände, ein Freiraum, in dem man sich austoben kann“, sagt Mark Marquart, wie Akte One abseits der Graffiti-Szene heißt. Sein Berlin, es wird immer kleiner . „Das Glas, mit dem überall gebaut wird, das verschluckt meine Kreativität, das reflektiert nur“, sagt er. Auf seiner Zeitungsseite malt er das Berlin, das die Sprayer lieben. Mit all den Tags und Graffitis, die sich hundertfach überlagern.

  • Masha

    Für Masha ist Berlin eine Befreiung. Von der Enge, der Konvention, den scheelen Blicken. Masha kommt aus Kaliningrad, der russischen Enklave im Baltikum. „Wenn du dort nur ein bisschen anders bist als der Rest, dann hast du ein Problem“, sagt Masha. Und: ihre Kunst würde dort niemand verstehen. Die beschreibt die Künstlerin so: vielschichtige Werke, die bei jedem Betrachten, neue Details erkennen lassen, sie ziehen dich in eine Welt voll Liebe, Sex und Leidenschaft, ein Fenster in die emotionale Welt der Malerin. In The Haus hat sie es geschafft, einen kompletten Raum in ein gigantisches, detailverliebtes Gemälde voller abgründiger geometrischer Formen und unergründlich Figuren zu verwandeln – mit einem einzigen Werkzeug: ein schwarzer Filzstift. Wer erfahren will, wie Mashas Kunst entsteht, was ihr durch den Kopf geht, der scheint einzig und allein auf die eigene Interpretation angewiesen. Fragt man sie, was sie da für ein Berlin für The Zeitung malt, erfährt man nur, dass das so ein Gefühl von ihr ist.

  • Die Dixons

    Was gibt es da noch zu sagen. Die Dixons: Kimo, Jörni, Bolle. Seit 25 Jahren in der Berliner Graffiti-Szene unterwegs. Sie sprühen überdimensionierte, überrealistische und – genauso würden sie es sagen – überkrasse Wandgemälde. Kleiner als hauswandgroß werden die selten. Auf ihre Sprühtouren reisen sei durch Marokko, Malta, England oder Griechenland. Aus dem Berliner Stadtbild kennt man sie vor allem durch die Werbemalereien ihrer Agentur Xi-Design – auch Die füllen meist ganze Brandwände. Jetzt haben sie sich und Berlin ein Denkmal gesetzt. The Haus. Alles fing an mit einer Mail an. Kimo blickte von seinem Rechner auf, sagte zu seinen Kollegen: „Digga, wir können ein ganzes Haus haben.“ In wenigen Wochen trommelten sie 165 Künstler aus Berlin und der Welt zusammen. Mit ihrer Energie steckten die Dixons die ganze Street Art-Szene an, dann die ganze Stadt. Und dabei soll es nach dem Abriss von The Haus nicht bleiben. Die Dixons haben Anfragen aus Gent, Texas, Shanghai.

  • Drink and Draw

    Was macht Berlin aus? Die Antwort haben die Jungs und Mädels von Drink and Draw schnell parat: Die Berliner, in all ihrer Vielfalt. Die geballte Kreativität der Stadt, die Künstler aus aller Welt anzieht. Hierher zum Beispiel, in The Haus. Ein Wimmelbild entsteht: Finde die Künstler! Das Künstlerkollektiv gibt es seit drei Jahren. Die Game Design-Studenten Bajar Tsedensodnom und Julian Dieckert trafen sich damals in ihren Studentenbuden. Bier war da, Stift und Papier waren da. Bajar posierte im Volksgewändern aus der Mongolei, im Federkostüm, als Gladiator. Aus der Zeichengruppe wurde ein Kollektiv mit sieben Künstlern im Kernteam. In die Alte Münze am Molkenmarkt laden sie zum mehrmals die Woche zum Life Drawing (und drinking) unter professioneller Anleitung.

Making-of

The Haus. Ein Montag, 9 Uhr morgens: Redaktionskonferenz. Das Konzept ist schnell erklärt. 16 leere Seiten der Berliner Illustrierten Zeitung warten darauf zum Thema „Mein Berlin“ vollgemalt zu werden. Aber wem soll Kimo von Rekowski, einer der Gründerjungs von The Haus, das erzählen? Genau ein Künstler ist gekommen. Er nennt sich Amigo, trägt Ballonmütze und schweigt im abgewetzten Leder eines Ohrensessels. „War klar“, sagt Kimo. Dass die später kommen, meint er. Er schiebt sich die Basecap in den Nacken, zündet sich eine Zigarette an. Easy. Zeit für eine von Kimos Geschichten. Davon, wie er einst alles mögliche intus hatte und so sehr lallte, das sein Lieblingswort „Digga“ zu etwas wurde, das entfernt wie „Dixon“ klang. Seit dem heißt seine Street Art-Crew, also Kimo, Jörni und Bolle, „The Dixons“.

Auf den Etagen des alten Bankgebäudes in der Nürnberger Straße wurde jeder Quadratzentimeter zu Kunst.
Foto: Reto Klar

Zu diesem Zeitpunkt müsste man sich eine ernsthafte Frage stellen: Wird diese Zeitung je gedruckt? Das müsste man, wüsste man nicht, wer da vor einem breitbeinig auf dem Ledersofa lümmelt. Kimo und seine Dixons haben es geschafft, 165 Künstler aus Berlin und der Welt in einem abrissreifen Bankgebäude zu versammeln, umsonst tausende Sprühdosen, hunderte Liter Wandfarbe, Gips, Schnaps und Bier aufzutreiben, den Künstlern nicht viel mehr zu sagen als, „macht was ihr wollt“, und daraus eines der aufsehenerregendsten Kunstprojekte des Jahres zu kreieren. Die Dixons nennen The Haus ihren Endgegner. Sie haben ihn bezwungen.

Den Künstlern wurden keine Vorgaben bei der Gestaltung ihrer Räume gemacht.
Foto: Reto Klar

Und noch mehr: Die Firma Pandion, die das alte Bürogebäude im Sommer abreißen lässt und - sonst nicht gerade das Lieblingsthema der Berliner - Luxuswohnungen bauen will, freut sich über eine immense und positive Berichterstattung. In der Immobilienbranche und in der Kultursenatsverwaltung ist von einem Zukunftsmodell die Rede: Zwischennutzung von Bauprojekten als neuer Freiraum für die Berliner Kunstszene.

Kaum zu glauben: Die Kunstwerke werden mit dem Haus abgerissen.
Foto: Reto Klar

Alexander Wolf geht noch weiter: „Wir retten Berlin.“ Wolf stand ganz am Anfang der Erfolgsgeschichte. Er hat den Kontakt zwischen der Immobilienfirma und den Dixons hergestellt. Zwischennutzung soll den Künstlern die Räume wiedergeben, aus denen sie die Gentrifizierung verdrängt hat. Temporär und im Herzen Berlins. Der Erfolg von The Haus gibt ihm recht. Im Pop-Up Campus der Exponential University lassen sich CEOs von Großkonzernen wie der Deutschen Bahn von The Haus inspirieren. Von morgens bis abends stehen hunderte Besucher Schlange, um sich von den Türstehern die Handys einsacken zu lassen, sich durch die 80 Räume zu staunen - befreit vom Zwang der sozialen Netzwerke. Mehr als 34.000 Besucher haben The Haus in einem Monat besucht.

In der obersten Etage ragen Füße durch die Decke. Eines der beeindruckendsten Werke.
Foto: Reto Klar

Heute ist Ruhe. An Montagen surren nur die Staubsauger der Reinigungsfirma durch die Etagen. Eine Stunde und 24 Minuten vergehen, bis genügend Künstler in der Lounge - die Wände vollgetaggt, die Bierkästen türmen sich bis zur Decke - eingetrudelt sind, und Kimo das Konzept dieser Zeitung vortragen kann. „Im Vordergrund steht natürlich, wie krass wir alle sind“, sagt er. Und dann noch: „Da hinten ist Frühstück, da ist Kaffee, da das Papier.“

Einen Tag lang entwarfen die Künstler ihre Beiträge für „The Zeitung“ wie die Sonderausgabe der „Berliner Illustrirte Zeitung“ in Anlehnung an The Haus heißt.
Foto: Reto Klar

Mein Berlin. Die Reaktionen sind so unterschiedlich, wie die Künstler. Anne Bengard mit den babyblauen Haaren setzt sich sofort im Schneidersitz vor einen umgedrehten Bierkasten, legt eine Karton darauf, zückt ihre Pinsel aus einem rosa Federmäppchen mit der Aufschrift „Reite auf Einhörnen, träume von Feen, sei eine Meerjungfrau“. In Raum 311 von The Haus hat sie ihren persönlichen Alptraum-Dauerbrenner verarbeitet: Zahnausfall. Heute malt sie die Berliner Schnauze.

Anne Bengard beim Arbeiten.
Foto: Reto Klar

Amigo, der Frühaufsteher mit Ballonmütze, sinkt immer tiefer in den Sessel, hört anatolische Volksmusik, stützt das Kinn auf der Faust auf, sieht aus, als würde er mit sich selbst Schach spielen. Dann zieht eine geschwungen, schwarze Linie aufs Papier, noch eine. Amigo ist Choreograph und Kalligraf. Sein Berlin tanzt er mit Edding auf Papier. Wieder und wieder. Bald stapeln sich die Entwürfe neben dem Ohrensessel.

Amigo verbindet Tanz und Kalligrafie
Foto: Reto Klar

Berliner Graffiti-Bomber der ersten Stunden finden sich in geschwätzigen Bastelecken zusammen, reden über ihre Stadt, das kreative Potenzial von Beton und Brandwänden, die Leere, die Büroklötze aus Glas in ihnen auslösen. Steffen Seeger, Illustrator und, wie er sich selbst nennt, visueller Master of Ceremony, schlurft verschlafen durch den Raum, in der Hand ein Büschel Kabel, das er aus irgendeinem Schacht in The Haus gerupft hat.

Kunst und Pizza. Dieses Bild ziert die Titelseite von „The Zeitung“
Foto: Reto Klar

Zwischendurch scheint es Kimo in The Zeitungsredaktion etwas zu geschäftig zuzugehen. Er legt Musik auf, tiefe Bässe und Textzeilen über Lap Dance wabern durchs Erdgeschoss.

Selbst die Treppenaufgänge wurden genutzt. Dieses Kunstwerk besteht aus Klebestreifen.
Foto: Reto Klar

Das kann doch was werden. The Haus goes Print. 16 Seiten Mein Berlin. Enjoy

The Zeitung

Die Titelseite der Berliner Illustrirten Zeitung

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