Wie es dem Spitzenreiter gelingt, der Beletage des deutschen Fußballs wieder neues Leben einzuhauchen, schildert Michael Färber.
Versuchen Sie bitte mal, das Ihren Kindern zu erklären. Es gab auch schon andere Vereine, die deutscher Fußball-Meister geworden sind, als den FC Bayern. Wenn Sie aus dieser Nummer mit einem ungläubigen Blick Ihres Nachwuchses rauskommen, dann dürften Sie noch gut bedient sein. Im Normalfall erntet man für solche Äußerungen ein Kopfschütteln der Marke „ja, genau“ oder man bekommt flugs einen Vogel gezeigt.
Ich empfehle in solchen Momenten Nachsicht. Die vergangenen zehn Spielzeiten in der von vielen doch immer noch geliebten Beletage der kickenden Branche waren eintönig genug.
Doch dieses immer noch Bundesliga genannte Münchner Schaulaufen mit landesweiter Ehrerbietung scheint offenbar vorbei. Zumindest lässt sich dies aus den ersten Wochen der Saison schlussfolgern. Und das hat etwas mit jenem „gallischen Dorf“ in Köpenick zu tun, das nicht aufhört, den Etablierten Widerstand zu leisten. Oder dem Klassenprimus.
Union gibt uns die Bundesliga zurück. So, wie sie sein soll. Spannend (gern bis zum letzten Spieltag), überraschend (gern ab dem ersten Spieltag) und begeisternd (bitte schön an jedem Spieltag).
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Man muss es sich einfach immer wieder ins Gedächtnis rufen, weil es so aberwitzig klingt und derart surreal wie ein schwerer Ausnahmefehler in der Matrix wirkt. Der 1. FC Union ist Tabellenführer der Bundesliga. Jener Verein, der das Außenseiter-Dasein derart kultiviert hat, dass alle Außenstehenden ihm diesen Status auch erst mal abnehmen. Doch was wie ein fast schon bewusstes Verspotten klingt, ist genau das Fundament, auf dem der Erfolg der Mannschaft von Trainer Urs Fischer ruht.
Keineswegs will man an der Alten Försterei den Ist-Zustand negieren. Dafür sind sie in Köpenick viel zu ambitioniert. Und ich möchte nicht wissen, wie oft in den vergangenen Tagen schon gefrotzelt wurde, wo im Forsthaus sich die Vitrine mit der Meisterschale wohl am besten machen würde. In meinen Augen gehört sich das auch so: Man muss den Moment feiern, wenn er da ist. Wer weiß schon, was morgen ist. Oder am nächsten Spieltag. Und wenn ich ehrlich bin: Das gute Stück macht tatsächlich einiges her.
Doch so sehr diese akustische Klassenerhalt-Endlosschleife, verbunden mit der 40-Punkte-Arithmetik andere auch nerven mag – Union macht sich immer wieder bewusst, welch harte Arbeit es braucht, um zum Erfolg zu kommen. Auf dem Platz und auch daneben.
Nur deshalb ist ein absolut verdientes Remis gegen die Bayern möglich gewesen. Nur deshalb gelang trotz der beiden Niederlagen in der Europa League gegen Royale Union Saint-Gilloise (0:1) und dem SC Braga (0:1) zunächst in Köln der Sprung an die Spitze und eine Woche später gegen Wolfsburg die erfolgreiche Verteidigung der Tabellenführung. Dass die Köpenicker an Spieltag sechs den SC Freiburg vom ersten Platz verdrängten, passt da ins Bild. Union stürzte die Breisgauer vom Thron, nicht die Bayern.
An dieser Stelle sei die Frage erlaubt, warum es erst Unions Aufstieg brauchte, um der Konkurrenz zu offenbaren, wie Bundesliga eigentlich gehen sollte. Mit Respekt, aber ohne Ehrfurcht selbst vor einem als unschlagbar geltenden Gegner. Mit Mut, aber ohne Kopflosigkeit, auch wenn der Mut mal für längere Zeit nicht belohnt wird. Und auch mit dem Wissen, dass man nicht auf jedes Wort von Fußball-Experten oder solchen, die es gern wären, hören muss, bloß weil diese vom Meistertitel schwadronieren.
Doch Träumen ist erlaubt, wenn sich die großen Bayern mit einer veritablen Ergebniskrise rumschlagen, Borussia Dortmund immer noch (oder schon wieder) seinen Weg an die Spitze sucht, Pokalsieger RB Leipzig gleich in der ersten sportlichen Delle komplett die Nerven verliert und Bayer Leverkusen – ja, eben Bayer Leverkusen ist.
Union gibt uns die Bundesliga zurück. Und bekommt selbst von Bayern-Ikone Thomas Müller Respekt gezollt: „Ich bin ja schon Fan von Union.“ Weil die Mannschaft etwas tut, was eher den Bayern zuzuschreiben ist, in jedem Fall aber einem Bundesliga-Tabellenführer: Sie macht einfach immer weiter.
Deutscher Meister 2023 wird – nicht der FC Bayern? Ich bin mir sehr sicher: Davon werden sie noch Ihren Enkeln erzählen.