Berlin. Wie schreiben das Jahr 2019 nach Christus. Ganz Berlin ist der Gentrifizierung ausgesetzt. Ganz Berlin? Nein! Ein von unbeugsamen Köpenickern bewohnter Stadtteil hört nicht auf, der Entwicklung Widerstand zu leisten. Mittendrin: Der 1. FC Union als Sammelbecken all jener, die Veränderungen fürchten, auch wenn sie zum Leben dazugehören.
Lieber unter sich bleiben, ab und an der Welt außerhalb ein Schnippchen schlagen, und sich dann schnell wieder in den Kreis der Union-Familie zurückziehen, ähnlich jenem gallischen Dorf in den Asterix-Comics.
Es gibt nicht wenige im Lager des Berliner Fußball-Zweitligisten, deren Sorge vor einer Entfremdung größer ist als die Freude darüber, am Montagabend im Relegations-Rückspiel gegen den VfB Stuttgart (20.30 Uhr, Eurosport-Player und im Morgenpost-Liveticker) tatsächlich in die Liga der 18 besten Mannschaften des Landes aufzusteigen.
Unions Aufstieg steigert Berlins Image
Doch die von einigen befürchtete, von vielen aber auch gewünschte Entwicklung ist nicht mehr aufzuhalten. Nicht weil die enge Beziehung zwischen jenen, die schon immer da gewesen sind, aufgelöst wird, sondern weil neue entstehen werden. Und um mit den Worten eines ehemaligen Regierenden Bürgermeisters zu sprechen: Das ist auch gut so.
Denn Union würde davon profitieren, und mit dem Klub auch die gesamte Stadt. Berlin kann – da dürften sich alle einig sein – zwei Mannschaften in der Bundesliga vertragen. Zweimal den FC Bayern zu Gast haben, zweimal Borussia Dortmund, zweimal die Gladbacher, die Frankfurter, die Bremer – welche Metropole kann das schon von sich behaupten? Keine. Das Hotel- und Gaststättengewerbe kann sich freuen, vom Imagegewinn Berlins ganz zu schweigen.
Der Kampf um die Berliner Stadtmeisterschaft neu eröffnet
Und wurden schon die Derbys gegen Hertha BSC erwähnt? Jeder, der die Duelle in der Zweiten Liga verfolgt hat, kann sich ausmalen, wie elektrisiert die Stadt erst sein wird, wenn es um Bundesliga-Punkte geht. Der Kampf um die Stadtmeisterschaft, sechseinhalb Jahre nach dem bislang letzten Duell, wäre er neu eröffnet.
Herthas Finanzchef Ingo Schiller frohlockte bereits darüber, dass das große Olympiastadion ein weiteres Mal ausverkauft wäre, wenn Union aufsteigt, und nicht immer nur dann, wenn die Bayern oder die Dortmunder kommen.
Auch Fußball-Europa wird die Hauptstadt mit zwei Erstligisten anders wahrnehmen. Die Stadt wäre in einem Atemzug mit London, Madrid oder Rom zu nennen, alle ausgestattet mit mindestens zwei Erstligisten.
Unions Spagat zwischen Kommerz und Identität
Dass Union seinen Charakter verlieren wird im zuweilen durchgestylten Bundesliga-Alltag, davon ist nicht auszugehen. Das Stadion mit seiner markanten Haupttribüne, dem in die Stehplatzränge integrierten Anzeigehäuschen, in dem die Tafeln für die Tore noch per Hand ausgetauscht werden, der Geruch von Bratwurst, der bei entsprechendem Wind gern mal durch die Arena zieht – all das hebt sich ab von den Hightech-Arenen und macht Union so unverwechselbar.
Doch der Spagat, den die Klubführung um Präsident Dirk Zingler zu bewältigen hat und der schon in den vergangenen Jahren nicht immer funktionierte oder nur sehr mühsam, er wird noch schwieriger werden.
Wie heißt es doch so schön in der Klubhymne von Nina Hagen? „Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen.“ Das weckt instinktiv das Zusammengehörigkeitsgefühl, das gerade in Köpenick immer wieder zu spüren ist. Dass die Quattrex Finance GmbH, die Union laut des Magazins „Kicker“ ein Darlehen von 6,3 Millionen Euro zur Verfügung stellte, aus dem Westen, aus Stuttgart, kommt, sollte hier nicht verschwiegen werden.
Union und die gefühlte Echtheit
Es ist nicht der einzige Punkt, der auf viele befremdlich wirken mag. Jene Stadionbauer, die sogar zum Teil ihren Jahresurlaub opferten, um vor gut zehn Jahren bei der Entstehung der neuen Stehplatztraversen mitzuhelfen, wurden mit einem roten Bauhelm und freiem Eintritt zum Stadioneröffnungsspiel „entlohnt“. Für den Bau der Haupttribüne gab Union knapp drei Jahre später Stadionaktien aus, deren Gegenwert eben jene Stadionaktie ist, ein bedrucktes Stück Papier.
Doch es verdeutlicht auch, wie die Menschen rund um Union ticken. Wer kann, der gibt für seinen Verein. Das kann auch auch schon mal das eigene Blut sein, um eine Bürgschaft für die Erteilung der Lizenz zu sichern. Zu Union zu gehen, das war zu DDR-Zeiten schon eine Form von Haltung, gegen das Establishment und füreinander.
Das weckt Aufmerksamkeit bei all jenen, die sich nach so genannter Authentizität im Fußball sehnen. Einer gefühlten Echtheit, welche sie bei anderen Vereinen oftmals vergeblich zu hoffen finden. Und die sich deshalb in Richtung Alte Försterei aufmachen.
Union will eine Alternative anbieten
„Unser Ziel ist, unsere Fußballkultur nach außen zu tragen. Wir wollen eine Alternative anbieten“, lässt sich Klubchef Dirk Zingler auf der Internetseite des Klubs zitieren. Was wie ein Appell für Fußball ohne von Sponsoren angekündigte Eckball-Verhältnisse, Ergebnisse oder Zuschauerzahlen klingt, verliert durch die Aufforderung zur Mitgliedschaft seine ideelle Bedeutung. Zingler: „Wer diese Fußballkultur will, muss Mitglied bei Union werden.“
Allein schon, um eines der begehrten Tickets für Heimspiele zu ergattern. Vor diesem Hintergrund macht der geplante Ausbau der Alten Försterei von derzeit gut 22.000 auf 37.000 Plätze Sinn. Mehr Zuschauer bedeuten mehr Aufmerksamkeit, für Union, für Köpenick und erst recht für Berlin. Selbst wenn Union in der Relegation scheitern sollte: Das gallische Dorf hat sich längst aufgemacht, das ganze Land zu erobern.
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