Berlin. Kevin-Prince Boateng saß ganz allein am Mittelkreis. Den Blick in das sich leerende Rund des Olympiastadions gerichtet. Tränen liefen ihm über die Wangen, die auch auf dem Gang in die Kabine nicht versiegen wollten. Die Emotionen des Routiniers standen am Sonnabend sinnbildlich für die gesamte Gefühlswelt bei Hertha BSC. 1:1 (0:0) gegen den VfL Bochum – ein Unentschieden, das den Gang in die Zweite Liga besiegelte.
„Der Abstieg ist nicht heute passiert“, erklärte Boateng, der nach dem Spiel am kommenden Sonnabend in Wolfsburg seine Karriere beenden wird. „Es ist einfach nur bitter, ich liebe den Verein.“ Sportdirektor Benjamin Weber versuchte sich in rationaler Herangehensweise: „Wir hatten so viele Möglichkeiten, Spiele zu gewinnen, Punkte zu sammeln. Wenn du am 33. Spieltag absteigst, hast du in dieser Saison zu viele Fehler gemacht.“
Nach Tousart-Treffer lebt Hoffnung bei Hertha BSC ganz kurz
Ein Sieg hätte hergemusst. Zwangsläufig, um die Minimalchance auf den Klassenerhalt noch bis zum Saisonfinale zu erhalten. Und lange hatte die Hoffnung tatsächlich gelebt. Das 1:0 durch Lucas Tousart, das der Franzose nach einer Ecke von Marco Richter eingeköpft hatte (63. Minute), befeuerte den Glauben an das Wunder noch einmal. Vor allem weil Abstiegskonkurrent FC Schalke 04 zeitgleich gegen Frankfurt zurücklag.
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Hertha erspielte sich weiter – angepeitscht von den 70.692 Fans im Olympiastadion – Tormöglichkeit um Tormöglichkeit. Chancenwucher könnte man fast sagen. Keine einzige fand ihren Weg ins Netz, obwohl teils hochkarätige dabei waren, wie ein Solo von Stevan Jovetic (75.) oder ein Pfostenschuss von Chidera Ejuke (90.).
„Wenn du das richtig bewertest, musst du da 2:0 oder 3:0 führen“, erklärte Trainer Pal Dardai, der seine Startformation auf vier Positionen umkrempelte. Agustin Rogel ersetzte den verletzten Filip Uremovic in der Innenverteidigung. Weil Marc Kempf ebenfalls ausfiel, rückte Marton Dardai von der Sechs ins Abwehrzentrum.
Christensen hält stark, kann Gegentor aber nicht mehr verhindern
Maximilian Mittelstädt rotierte für Kapitän Marvin Plattenhardt ins Team, die Binde übernahm Boateng, der überraschend von Beginn an ran durfte. Und weil Offensivallrounder Stevan Jovetic in die Sturmspitze rückte, füllte Suat Serdar das Mittelfeld auf.
Die Umstellungen funktionierten. Einstellung, Zweikampfverhalten und taktische Disziplin waren zufriedenstellend. Der vielzitierte Mannschaftsgeist hatte ebenfalls Einzug gehalten „Die Leistung heute war gut“, so Dardai, dessen Weiterbeschäftigung nach dem siebten Bundesliga-Abstieg der Klubgeschichte ungewiss ist.
Doch wer in dieser Saison der Berliner genau aufgepasst hatte, der wusste, was noch kommen sollte. Nachspielzeit, Eckball Bochum, in der Mitte Ex-Unioner Keven Schlotterbeck – 1:1 (90.+4). Mitten ins blau-weiße Herz. Nicht mal Herthas Keeper Oliver Christensen, der vorher manche hundertprozentige Chance der Gäste noch irgendwie entschärft hatte, konnte diesmal retten.
Die Saison von Hertha BSC war eine Katastrophe
„Die Ecke kommt rein, da verteidigt keiner und drin ist der Ball“, fasste es Dardai kopfschüttelnd zusammen. „Das ist ein Spiegelbild der ganzen Saison, dass dieses Ding reinfällt“, erklärte Sportdirektor Weber. „Wir haben nicht das zweite Tor gemacht, das die Entscheidung gebracht hätte.“ Torhüter Christensen konnte es nicht glauben, schaute völlig fassungslos hinter sich.
Abgesehen vom Jubel des VfL-Anhangs herrschte beinahe Totenstille im Olympiastadion. So kurz vorm Etappenziel der endgültige K.o. In der Ostkurve wurden Böller gezündet, nach Abpfiff auch in Richtung der Spieler geworfen, die sich nur zögerlich den eigenen Fans näherten.
„Es ist verdient, das wir ein Absteiger sind“, befand Christensen, der den Tränen nahe war. „Zu viele Spiele mit zu wenig Bereitschaft. Die ganze Saison war eine Katastrophe.“ Nur sechs Siege, lediglich fünf Punkte auf fremdem Rasen, derbe Klatschen wie gegen Wolfsburg oder Schalke.
Für Sportdirektor Weber geht die Arbeit jetzt richtig los
Gedanken daran dürften auch den Spielern am Sonnabend durch den Kopf gegangen sein. Jeder war mit sich selbst beschäftigt, suchte sich ein Eckchen, um das Unfassbare zu verarbeiten. Mienen, die denen auf einer Beerdigung ähnelten, egal, wohin man blickte. Maximilian Mittelstädt und Florian Niederlechner blieben noch lange auf der Bank sitzen. Selbst dann noch, als Techniker anfingen, die Überdachung abzuschrauben.
„Heute ist ein schwerer Tag“, erklärte Christensen. Seine Zukunft in Westend ließ er offen. Ebenso wie wohl ein Großteil seiner Teamkollegen. Für Sportdirektor Weber geht die Arbeit deshalb schon morgen weiter. Für die Vorbereitung auf die 16. Zweitliga-Saison der Vereinsgeschichte bleiben nur gut acht Wochen. „Der Handlungsdruck ist da“, so Weber. „Aber eine Zielstellung auszurufen, wäre jetzt falsch.“
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