Fussball

Nicht alles ist bella in Italien

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Dominik Bardow
Italien schießt ein Tor: Freistoßschütze Lorenzo Pellegrini trifft in Jerewan zum 2:1 gegen Armenien.

Italien schießt ein Tor: Freistoßschütze Lorenzo Pellegrini trifft in Jerewan zum 2:1 gegen Armenien.

Foto: hakob berberyan / dpa

Italiens Fußballer marschieren durch die EM-Quali. Doch der Erfolg täuscht über große Probleme des viermaligen Weltmeisters hinweg.

Florenz. Ah, Bella Italia! Das Land jenseits der Alpen ist auch dieser Tage eine Reise wert, wenn sich ein wieder mal verspäteter Zug durch die Toskana schlängelt, vorbei an grünen Hügeln, alten Burgen und verfallenen Türmen. Und selbst der Calcio, der heimische Fußball, scheint dieser Tage auferstanden aus Römerruinen, erholt von der verpassten WM-Teilnahme in Russland im Vorjahr.

In Finnland soll es den sechsten Sieg geben

Durch den Bahnhof in Florenz drängeln sich schreiende Schulkinder. „Juve!“, ruft ein Schüler. „Napoli“, entgegnet ein anderer. Und in den Schaufenstern der Geschäfte posiert Cristiano Ronaldo für eng anliegende Unterhosen. Fußball ist wieder sexy, jetzt, wo die Vereine der obersten Spielklasse Serie A über eine Milliarde Euro in neue Beine investiert haben und die Nationalmannschaft von Sieg zu Sieg durch die EM-Qualifikation marschiert.

Doch die Euphorie für die „Squadra Azzurra“ hält sich in Grenzen. Die blauen Trikots einer anderen Auswahlmannschaft sind in den Sportgeschäften teurer: die der Rugby-Nationalmannschaft, die bald an der WM in Japan teilnimmt. Dabei ist Florenz eigentlich Sitz des Trainingszentrums des Fußballverbandes. Die öffentliche Präsenz mag deshalb fehlen, weil die Mannschaft von Roberto Mancini auswärts unterwegs ist. Am Donnerstag gewannen die „Azzurri“ 3:1 in Armenien, am heutigen Sonntag wollen sie in Finnland den sechsten Sieg im sechsten Qualifikationsspiel (20.45 Uhr, live bei DAZN).

Stars wie Pirlo und Totti gibt es nicht mehr

In Italien spielt die Nationalmannschaft, außerhalb von WM- und EM-Turnieren, jedoch selten die ganz große Rolle. Und vielleicht sind die „Tifosi“ noch skeptisch, was den neuen Erfolg angeht.

Francesco Caremani jedenfalls ist es. Der Journalist aus Arezzo bei Florenz schreibt für die Zeitungen „Tuttosport“ und „Corriere della Sera“. Er beobachtet den Calcio seit über 25 Jahren. „Die Nazionale ist schon seit einigen Jahren nicht mehr die, die wir kennen“, klagt er und erinnert sich an den WM-Triumph 2006, als Spieler wie Gianluigi Buffon, Fabio Cannavaro, Andrea Pirlo oder Francesco Totti den goldenen Pokal im Berliner Olympiastadion in die Höhe reckten. „Das war eine Wahnsinns-Mannschaft!“, schwärmt Caremani.

Lieber Ribéry als italienische Talente

Seit einigen Jahren, beobachtet er, ist das italienische System nicht mehr in der Lage, Fußballer auf solchem Niveau hervorzubringen. Es fehlten die zentralen Strukturen, der Verband überlasse zu viel den Vereinen. Man sehe sich Serienmeister Juventus Turin an: Der Torwart ist Pole, der Spielmacher Bosnier, der Stürmerstar Portugiese. Das Problem liegt an der Wurzel: Die Vereine setzen nicht auf die Jugendspieler mit dem meisten Talent, sondern auf diejenigen, die den meisten Profit versprechen. „Oft sind schon die Jugendteams voller Ausländer aus Südamerika, Afrika und Osteuropa“, klagt der Autor, der sich ausdrücklich von dem Rassismus distanziert, der in den Stadien grassiert. Er macht sich lediglich Sorgen um die „Squadra Azzurra“.

Das tun offenbar sonst nicht viele. Zumindest die Vereine und ihre neuen Eigentümer nicht. 1,18 Milliarden Euro hat die Serie A in diesem Sommer allein in Ablösesummen investiert, ein Drittel mehr als die Bundesliga (747,6 Millionen). Für Hoffnungsträger wie Matthijs de Ligt, der für 85 Millionen Euro zu Juventus Turin kam, oder Romelu Lukaku, für 65 Millionen zu Inter Mailand gewechselt. Aber auch für Veteranen wie Franck Ribéry und Kevin-Prince Boateng, die sich nun in Florenz verdingen und ihre besten Tage wohl hinter sich haben.

Ronaldos Verpflichtung als Vorbild

Wer am Tag nach dem mühsamen Sieg Italiens gegen zehn tapfere Armenier zum Kiosk geht und die „Gazzetta dello Sport“ kauft, die rosafarbene Fußballbibel des Landes, liest vier pflichtschuldige Seiten über die Siegesserie des Nationalteams, danach seitenlang Frisches aus der Gerüchteküche über bereits oder bald zu verpflichtende Serie-A-Stars. Angeblich soll ja Lionel Messi am Ende der Saison ablösefrei zu haben sein.

„Die Spieler sind auch kommerzielle Investitionen“, erklärt Caremani. Nach der Verpflichtung von Ronaldo vor einem Jahr habe Juventus Turin auch bei Instagram und Sponsoring-Deals ein enormes Wachstum erzielt. „Es gibt eine Tendenz, Spieler für die Piazza zu kaufen, für die Leute auf der Straße“, sagt Caremani. Zwar hätten früher Klubeigner wie Silvio Berlusconi beim AC Mailand auch tief in die Tasche gegriffen. Aber den neuen Investoren aus China oder Amerika „geht es nur noch ums Gewinnen und ums Business“.

Erst die EM 2020 wird die wahre Probe

Vereine wie Atalanta Bergamo, die ihre Spieler noch selbst ausbilden, sind eher die Ausnahme. Und zehn Jahre hinterher, im Vergleich zu Juventus Turin. Auch weil der Verein, trotz anderslautender Bekenntnisse, auf Stars aus dem Ausland setzt und im Schnitt die älteste Mannschaft der Liga aufbietet. Und das merkt Caremani als Juve-Fan an, der ein Buch über die Stadion-Katastrophe von Heysel 1985 geschrieben hat.

Unter diesen Umständen, findet der Experte, macht Nationaltrainer Mancini noch das Beste daraus. In der Qualifikations-Gruppe mit Bosnien, Finnland, Griechenland, Armenien und Liechtenstein wird Italien wohl nicht stolpern. „Doch erst die Europameisterschaft im kommenden Sommer wird die wahre Probe“, glaubt Caremani. Dafür, wie wettbewerbsfähig die neue Mannschaft ist, ob sie mit Teams wie Frankreich, Spanien oder Deutschland mithalten kann. Vermeintliche Stars wie Lorenzo Insigne, Marco Verratti oder Federico Bernardeschi müssen in der „Nazionale“ noch einiges beweisen. „Aber wir sind immer noch Italien!“, warnt Caremani. „Wenn es drauf ankommt, dann sind wir da.“

Kommenden Sommer dürften die „Azzurri“ als einer von diesmal zwölf EM-Gastgebern die Vorrunde zu Hause in Rom bestreiten. Dann dürfte Bella Italia für Fußballliebhaber womöglich wieder eine Reise wert sein.