Da standen sie, am Straßenrand. Inmitten der Dunkelheit, und man glaubte seinen Augen kaum. Zwei Stunden zuvor war Südafrika bei der Weltmeisterschaft ausgeschieden, als erster Gastgeber der WM-Geschichte überhaupt schon in der Vorrunde. Das 2:1 in Bloemfontein gegen Frankreich – nur noch Makulatur. Ein Land in Tränen erwarteten die neutralen Beobachter, dem Turnier werde wohl nun sein Momentum abhandenkommen. Aber die 60 Menschen etwas außerhalb der Stadt jubelten. Sie bliesen in ihre Vuvuzela-Tröten und winkten den Autos zu, die zurück nach Johannesburg fuhren. Einige standen dort in ihren Schlafanzügen. Sie müssen gefroren haben im Angesicht des südafrikanischen Winters, ausgelaugt vom Frust des frühen Ausscheidens.
Viele der Stadionbesucher, die hier vorbeizogen, verdienen an einem Tag mehr als die Menschen in den Townships in einem Monat. Doch während der WM rückten die sozialen Unterschiede in Südafrika, die größten der Welt, in den Hintergrund. Was zählte, war die Gemeinsamkeit: die erste Weltmeisterschaft auf afrikanischem Boden, die Erkenntnis, dass es eine gute werden würde. Die Leute am Straßenrand schrien, sie lachten, es war eine spontane Parade gegen die Enttäuschung. Und auf das Gesicht der enttäuschten Anhänger in ihren Autos schlich sich jenes Lächeln zurück, das dieses Turnier auf so wunderbare Weise allenthalben begleitet hat. Sie bremsten ab, einige stiegen aus und feierten mit. In der Dunkelheit, in einem Land wie Südafrika, in der so mancher hinter jedem Passanten einen Kriminellen befürchtet.
Die WM 2010 ist nun Geschichte, und passender als der großartige südafrikanische Buchautor Mark Gevisser hat wohl niemand ihren Effekt für Südafrika zusammengefasst: „Wir haben vor allem gewonnen, weil wir endlich von einem ‚Wir' sprechen konnten.“ Etwas habe sich mit der WM verändert, mit dieser gemeinsamen Unterstützung für die südafrikanische Nationalmannschaft und der Verantwortung für 200.000 ausländische Fans: „Wir haben uns alle auf der gleichen Seite wiedergefunden.“ Auf Augenhöhe.
Das Image neu definiert
Viele Vertreter der autovernarrten südafrikanischen Mittelklasse benutzten auf dem Weg zu den Spielen doch tatsächlich öffentliche Verkehrsmittel oder trauten sich erstmals in eine Township. Es war das Turnier aller Südafrikaner und nicht nur einzelner Bevölkerungsgruppen im doch noch tief gespaltenen Land. „Der Stolz in Südafrika, eine Einheit geformt zu haben, eine gemeinsame Vision geteilt zu haben, lässt sich nicht in Zahlen messen“, sagte Organisationschef Danny Jordaan, und er resümierte: „Wir haben das Image Südafrikas neu definiert.“
Das Turnier hat zumindest für viereinhalb Wochen Barrieren aufgebrochen, mehr noch zwischen Arm und Reich als zwischen den ethnischen Gruppen. Mit der gelungenen Organisation der WM, dem logistisch wohl anspruchsvollsten Sportereignis der Welt, offenbarte das Land einen Blick auf sein tatsächliches Potenzial. Es war ein Monat, in dem der Begriff der Regenbogennation nicht mehr wie eine längst vergessene Utopie wirkte.
Etwa 3,2 Millionen Zuschauer sahen die 64Spiele – nur bei der WM 1994 in den USA waren es mehr, wobei in Südafrika weit weniger ausländische Besucher als erwartet kamen. Lange war auch die Nachfrage in Südafrika schleppend, bis der Weltverband Fifa äußerst spät das Ticketverfahren vereinfachte. Es gab entgegen allen Befürchtungen keine schweren Verbrechen, keine Stromausfälle in den Stadien und – mit Ausnahme von den verspäteten Flügen beim Halbfinale der Deutschen – auch kaum Reisechaos.
„Der ultimative Ritterschlag war, dass mit dem Anpfiff am 11. Juni die Leute eher über französische Egos debattierten als brennende Reifen (in den Townships), eher über Torkameras als Überwachungskameras und eher über die Hand Gottes als über Hände, die mit Macheten fuchteln“, kommentierte David Smith im britischen „Guardian“ süffisant die Hysterie im Vorfeld der WM.
Vornehm hielten sich zuletzt Kritiker wie der Präsident des FC Bayern München, Uli Hoeneß, zurück. Er hatte die Vergabe des Turniers nach Südafrika im Januar noch als „einen der größten Fehler“ von Fifa-Präsident Sepp Blatter bezeichnet. Mit einiger Genugtuung sagte Organisationschef Jordaan, diese Skeptiker hätten „eine unglaubliche Erfahrung“ verpasst. Er rufe ihnen zu: „Bleibt in eurer Ecke und schmollt.“ Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger jedenfalls bezeichnete das Turnier als das bislang aufregendste. „Ich habe niemals eines mit besserer Organisation oder Gastfreundschaft erlebt.“ Und Bundeskanzlerin Angela Merkel befand: „Südafrika sollte wirklich stolz auf sich sein.“
Die Wahrnehmung des Landes hat sich verändert. Das gilt ganz besonders für den Großraum Johannesburgs, der in den vergangenen Jahren selten positive Schlagzeilen produziert hatte. Doch Südafrika hat sich auf der anderen Seite mit der Vorbereitung des Turniers bis an die Belastungsgrenze angestrengt, vielleicht sogar – das wird die Zukunft zeigen – überanstrengt. Die ersten Kostenkalkulationen gingen von weniger als 300 Millionen Euro aus. Am Ende lagen die Ausgaben bei dem Zwölffachen – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, in dem sich das demokratische Südafrika von seiner ersten Rezession und den Folgen der Wirtschaftskrise erholte, denen eine Million Stellen zum Opfer fielen.
Auf der Einnahmeseite stehen bislang lediglich eine Milliarde Euro. Wegen der hohen Kriminalitätsraten und Reisekosten kamen anstelle der erhofften 450.000 WM-Touristen eben nur weniger als die Hälfte. Das Turnier wird nach übereinstimmenden Prognosen von Finanzexperten zu maximal einem halben Prozentpunkt Wirtschaftswachstum beitragen. Materiell auszahlen, so viel steht fest, kann sich die WM erst in einigen Jahren – und das nur für den Fall, dass Südafrika genug Strahlkraft aufbringen wird, um deutlich mehr Investoren und Touristen anzulocken.
Die unmittelbaren wirtschaftlichen Hoffnungen – nicht zuletzt von der traditionell zu Optimismus neigenden Regierung geschürt – erfüllten sich hingegen für viele Südafrikaner nicht. Der informelle Sektor stellt 27 Prozent des Arbeitsmarkts, und viele Straßenhändler bemängelten, dass sie ihre Waren wegen der strengen Fifa-Richtlinien nicht in der Nähe der Stadien oder bei Fanfesten verkaufen durften.
Ohne Frage: Die Kritiker dieses Turniers sind in der Minderheit. Doch mit der WM steigt auch der Druck auf die Regierung. „Wir haben Erwartungen geschürt, dass die WM sofort für Investitionen und neue Jobs sorgen wird“, sagt William Gumede, Privatdozent an der Universität Witwatersrand in Johannesburg. „Die Gefahr ist, dass diese Blase platzt.“
Wie eine mahnende Erinnerung werden in den kommenden Jahren die zehn WM-Arenen stehen, von denen wohl nur wenige angemessen genutzt werden können. Der Besucherschnitt der südafrikanischen Liga liegt bei rund 10000 Zuschauern, die Rugby-Teams sind nur schwer zum Umzug aus den eigenen Stadien zu bewegen. Die sind zwar alt, aber kosten oft keine Miete. Immerhin das großartige Stadion in Durban wird wohl als wichtiges Argument bei einer möglichen Bewerbung Südafrikas um die Olympischen Spiele 2020 dienen.
Kaum vorhandene Kriminalität
Die südafrikanische Zeitung „Mail &Guardian“ formulierte aber die eigentliche Frage, die Südafrika in den kommenden Monaten beschäftigen wird. „Warum ist der Staat in der Lage, die Stadien pünktlich zu bauen und der Fifa eine WM zu organisieren, wenn er nicht in der Lage ist, seinen Bürgern mit Respekt und Effizienz zu begegnen, die vergleichbar sind?“ Mit berechtigtem Stolz vermeldeten Politiker und WM-Organisatoren eine kaum vorhandene Kriminalität während des Turniers. Offizielle Zahlen präsentiert die Polizei erst im September, doch die Indizien sprechen tatsächlich für einen Rückgang. ADT, eine der führenden Sicherheitsfirmen, berichtete von 60 bis 70 Prozent weniger Vorfällen in einigen Stadtteilen Johannesburgs.
Der Überwachungsgrad während der WM wird sich jedoch kaum aufrechterhalten lassen. Zwar bleiben die 41.000 speziell für die WM ausgebildeten Polizisten im Dienst. Doch die Sicherheitskräfte haben unzählige Überstunden angesammelt, ihre Präsenz wird nicht beibehalten werden können. Auch die Gerichte, die bis spät in die Nacht arbeiteten und innerhalb von einem Tag teilweise langjährige Gefängnisstrafen für Taschendiebstähle aussprachen, werden nach der WM wohl wieder in ihrem gewohnten Trott verfallen.
Südafrika feiert, und es gibt in diesen Tagen so viel Grund für Optimismus wie schon lange nicht mehr. Das Land darf aber bei aller Euphorie über das Erreichte und dem Jubel mit dem neuen Weltmeister nicht vergessen, dass die eigentlichen Herausforderungen erst bevorstehen. Brennpunkte wie die enormen und weiter wachsenden sozialen Unterschiede oder eine Jugendarbeitslosigkeit von rund 50Prozent sind weiter vorhanden.
Ganz Südafrika jubelte mit Ghana, als das Team ins Viertelfinale einzog. Nun gilt es, sich mit gleicher panafrikanischer Einstellung um die Flüchtlinge aus Simbabwe zu kümmern. In diesen Tagen versuchen Medienberichten zufolge Hunderte, das Land zu verlassen, aus Angst vor fremdenfeindlichen Attacken. Sie hatten vor zwei Jahren über 60 Menschen das Leben gekostet. Die mächtige Gewerkschaft Cosatu nutzte die Gelegenheit für einen polemischen Vorschlag: Man könne doch mehrere Stadien in Kapstadt neu nutzen – um Verfolgten von ausländerfeindlichen Übergriffen Schutz zu gewähren.
Ein irrwitziger Vorschlag. Denn Südafrika verkörpert in diesen Tagen mehr die Vision des ehemaligen Präsidenten Thabo Mbeki: „Eines Tages sollen Historiker auf die WM 2010 zurückschauen als einen Zeitpunkt, in dem Afrika stolz war und die Jahrhunderte von Armut und Konflikten beendete.“ Die Sätze stammen aus dem Jahr 2004. Dem Jahr der WM-Vergabe.