Berlin. Es ist der Tag vor 25 Jahren, als ganz Deutschland blau macht, wahlweise: blau ist... Jedenfalls in Kerpen, das an diesem Sonntag, dem 13. November 1994, in der deutschen Sportgeschichte so berühmt wird wie der Boris-Becker-Ort Leimen elf Jahre zuvor. Nur hell ist es noch nicht, denn das entscheidende Ereignis findet am anderen Ende der Welt statt, in Adelaide (Australien). Für die Millionen von Frühaufstehern lohnt es sich, mehr noch als früher die Boxnächte mit Muhammad Ali. Denn erstmals hat die Autobahn-Nation einen Weltmeister in ihren Reihen, unterwegs mit einem blauen Benetton-Rennwagen.
Schumacher macht die Formel 1 zur Nummer-Eins-Sportart im Land
Nach dem ersten WM-Titel 1994 ist im deutschen Motorsport, überhaupt im ganzen Land, nichts mehr so wie es mal war. Schumi wird zum Synonym für vieles: Erfolg, Tugend, Geld, Rücksichtslosigkeit, Treue, Präzision. Und er macht die Formel 1, von den Öffentlich-Rechtlichen verstoßen, zu einer Nummer-Eins-Sportart und damit auch den Privatsender RTL groß, der folgerichtig seinem Paten am Mittwochabend (20.15 Uhr) mit einer besonderen Dokumentation huldigt.
An dem frühen Novembermorgen vor einem Vierteljahrhundert herrscht das blanke Entsetzen bei allen Frühaufstehern, alles scheint aus zu sein in dieser 36. von 81 Runden beim Großen Preis von Australien. Michael Schumacher ist mit einem Vorsprung von 92:91 Punkten auf seinen Verfolger Damon Hill nach Adelaide gereist, es ist ein echter Showdown. Deutschland gegen England, die große Macht im Motorsport. Benetton als italienisches Team gegen den Dinosaurier-Rennstall Williams. Schumacher, der Aufsteiger gegen den Weltmeistersohn. Und dann das: Der Kerpener wirft seinen Rennwagen von der Piste, bugsiert das schwer ramponierte Auto mit den Reifen voller Gras noch einmal auf die Fahrbahn, als wolle er das Glück erzwingen, könne nicht akzeptieren, dass der Traum so bitter endet.
Schumachers Rivale Hill wird aus dem Rennen genommen
Von hinten naht der Verfolger Hill, auch er ein Besessener. In aller Ruhe hätte er abwarten können, bis des Gegners Rennwagen liegen bleibt, doch er setzt gleich zum Überholen an. Mit dem Instinkt des Rennfahrers und nach der Regel, dass dem vorne liegenden Fahrer die Kurve gehört, verteidigt Schumacher die Ideallinie. Hill will sich innen vorbei zwingen, da kracht es am Scheitelpunkt eines scharfen Rechtsknicks. Der Benetton schlittert in die Reifenstapel, der Rivale fährt weiter. Schumacher ist endgültig draußen, klettert in der Auslaufzone aus dem Wrack, flüchtet hinter den Zaun. Der damals 25-Jährige ist sicher: das war’s, Hill fährt weiter, dem Titel entgegen. Seinem Titel. Während er noch hadert mit sich, wendet sich das Schicksal. Der Williams kann zwar weiterfahren, muss aber an die Box. Dort entscheidet ein prüfender Blick auf die beim Crash verbogene Vorderradaufhängung die Weltmeisterschaft, Hill wird aus dem Rennen genommen. Technischer K.o.
Davon weiß der neue Champion aber erstmal nichts, er wartet darauf, dass der Rivale an ihm vorbeirauscht, hat die Hände in den Fangzaun gekrallt, schüttelt immer wieder den Kopf. „Es waren unglaubliche Augenblicke, ich war völlig aufgelöst. Ich wusste nicht, was mit Damon passiert war, aber ich wusste, dass es kein Problem für ihn sein sollte, den einen Punkt Vorsprung, den ich hatte, jetzt noch aufzuholen“, sagt Schumacher später. Nur fetzenweise versteht er den Streckensprecher, irgendwann schnappt er etwas von einem Reifenschaden bei Hill auf. Ein Streckenposten flüstert ihm die frohe Botschaft ins Ohr. Schumacher kann es kaum begreifen.
WM-Titel nach acht Siegen in 16 Rennen für Schumacher
Was für ein Abschluss einer dramatischen Saison, in der Hills Teamkollege und Schumachers großer Gegner Ayrton Senna ein halbes Jahr zuvor ums Leben gekommen war. Acht Siege in 16 Rennen und dann mit einem Ausfall Weltmeister werden. „Ich wusste überhaupt nichts mehr, ich wusste nicht, ob ich mich freuen sollte, in mir waren sämtliche Gefühle total vermischt. Es war schrecklich da draußen, aber es war unbeschreiblich, als es dann endlich feststand“, sagte Schumacher.
Sein vielleicht wichtigster der insgesamt 91 Siege polarisiert durch die Umstände natürlich, Hill unterstellt Absicht, die Medien schießen sich endgültig auf Schumacher ein, er wird kritischer beäugt als andere, das Bild vom hässlichen Deutschen wird gezeichnet. Erst viel später, da setzt er schon mit Ferrari an, zum erfolgreichsten Fahrer der Geschichte zu werden, wird es milder. Inzwischen hat auch der Unfallgegner von Adelaide seine Kritik teilweise zurückgenommen, was sicher nicht nur mit Schumachers Schicksal nach seinem Skiunfall vor sechs Jahren zu tun hat. Alle Champions besitzen in ihrem sportlichen Tun eine gewisse Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst und andere. Der gerade zum sechsten Mal gekürte Mercedes-Pilot Lewis Hamilton, der im kommenden Jahr nach Titeln mit Schumacher gleichziehen könnte, ist da keinen Deut anders.
Schumacher widmet WM-Titel dem verstorbenen Ayrton Senna
Die Wirkung des ersten Titelgewinns, den er spontan Ayrton Senna widmet, ist in der Heimat famos. Schumachers erster von sieben Titeln entwickelt eine Sogwirkung. Aus Schwarz-Rot-Gold wird Schwarz-Rot-Schnell, die Formel 1 wird salonfähig, gräbt Fußball und Tennis Aufmerksamkeit ab. Zweistellige Millionen-Einschaltquoten sind die Regel. Michael Schumacher verleiht einem Sport, der bis dahin als Abenteuerspielplatz für Adrenalin-Junkies gilt, den nötigen Stellenwert. Viele deutsche Firmen wollen plötzlich in der Königsklasse mitmischen, steigen als Sponsoren ein oder mischen selbst mit. Ganz neue Dimensionen, auch gesellschaftliche. Deutschland ist plötzlich wer im Motorsport, weil Marken wie Mercedes und BMW folgen, dazu bis heute elf Fahrer, darunter auch sein Bruder Ralf. Der zwölfte könnte 2021 Mick Schumacher werden, der Sohn des Rekordweltmeisters.