Berlin. Inzwischen könnte Luise Malzahn wohl ein Buch darüber schreiben, was sie auf ihren Reisen erlebt, eine kleine Typologie der Flugreisenden. Denn Malzahn kennt sie alle: Die Passagiere, die nach der Landung begeistert klatschen. Solche, deren Handgepäck kaum in die Ablage passt. Und jene, die immer gleich panisch zum Schalter rennen, sobald ihr Flug aufgerufen wurde, weil sie fürchten, sie könnten sonst ihren Flieger verpassen.
Luise Malzahn hat mehr Grand-Prix-Medaillen als alle anderen
In diesem Jahr hatte die Judokämpferin wieder ausreichend Gelegenheit, ihre Mitreisenden zu beobachten. Für ihren Sport jettet sie um die Welt, einmal waren es 28.000 Kilometer in drei Wochen. „Das schlaucht dann schon. Aber dank meines Sports habe ich schon Orte gesehen, die ich sonst niemals bereist hätte.“ Auch in diesen Tagen ist sie wieder unterwegs, das World Masters in Qingdao steht an. Für diesen Wettkampf zum Jahresabschluss haben sich die ersten 32 der Weltrangliste qualifiziert, es gibt dort massig Punkte für die Olympiaqualifikation.
„Beim World Masters starten nur die Besten der Besten“, erklärt Malzahn. Trotzdem reist sie optimistisch nach China. „Ich weiß, dass ich jeden Gegner schlagen kann“, sagt sie. 2019 gewann sie bereits den Grand Slam in Baku, einen Wettkampf der höchsten Kategorie, und besiegte auf dem Weg dorthin unter anderem die beiden Weltmeisterinnen Mayra Aguiar (Brasilien) und Madeleine Malonga (Frankreich) sowie im Finale ihre nationale Konkurrentin Anna-Maria Wagner. Bei den Events in Paris und Abu Dhabi wurde sie jeweils Zweite, auch beim Grand Prix in Marrakesch stand sie als Dritte erneut auf dem Podium. Seit 2009 hat Malzahn damit nun 20 Grand-Prix-Medaillen gesammelt – kein anderer Judoka weltweit schaffte im selben Zeitraum mehr. Normalerweise sei sie keine große Freundin von Statistiken, sagt sie. „Aber darauf bin ich dann doch stolz, weil es zeigt, dass ich seit Jahren konstant meine Leistung bringe.“
Bei der WM enttäuschten die deutschen Judoka
Bei den Weltmeisterschaften in Tokio lief es im August dagegen nicht gut, dort scheiterte die Berlinerin bereits in der ersten Runde. Auch sonst schnitten die deutschen Judoka bei der WM eher schwach ab. „Das internationale Niveau ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen“, sagt Malzahn – ein Ergebnis gezielter Fördermaßnahmen seitens des Weltverbandes, durch die einstige Judo-Entwicklungsländer stark aufgeholt haben. „Von den ersten 15 der Weltrangliste kann heute jeder jeden schlagen“, meint Malzahn.
Schon bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro war Judo nach der Leichtathletik die Sportart, in der auf dem Treppchen die größte Nationenvielfalt herrschte. Für Olympia 2020 träumt auch Luise Malzahn von Edelmetall. So wie 2011 bei der EM oder 2015 bei der WM, als sie jeweils Bronze holte. Nach der Verletzung der Olympia-Dritten Laura Vargas Koch ist Malzahn die größte Olympiahoffnung des Berliner Stützpunkts. Seit fünf Jahren lebt die gebürtige Hallenserin in der Hauptstadt. „In erster Linie kämpfe ich zwar für mich. Aber mit einer Olympiamedaille möchte ich auch dem gesamten Trainerteam dort etwas zurückzahlen“, sagt sie.
Zwei Kreuzbandrisse bremsten Luise Malzahns Erfolg
Der Qualifikationszeitraum des Weltverbands läuft eigentlich noch bis Mai 2020. Der Deutsche Judo-Bund will allerdings schon früher, im Februar im Anschluss an den Grand Slam in Düsseldorf, bekanntgeben, wer das Ticket für Tokio bekommt. Über Weltrangliste wäre Luise Malzahn sicher dabei, jedoch darf aus jedem Land nur ein Athlet pro Gewichtsklasse starten. Und in ihrer Klasse bis 78 Kilogramm gibt es mit Anna-Maria Wagner eine weitere Aspirantin, die in der Weltrangliste als Neunte nur einen Platz hinter Malzahn rangiert. Der Fall erinnert ein wenig an den von Richard Frey und Dimitri Peters vor den Spielen 2016, die damals sogar Erster und Vierter der Rangliste waren – auch von ihnen löste am Ende nur einer das Ticket.
„Ich möchte nicht in der Haut des Bundestrainers stecken, der das entscheiden muss“, sagt Luise Malzahn. 2012 hatte sie schon einmal das Nachsehen für Olympia, obwohl sie laut Weltrangliste gut genug gewesen wäre. „Im Nachhinein war es okay, weil ich mich dann sowieso am Kreuzband verletzt habe“, sagt sie. 2016 schaffte sie die Qualifikation, erlitt in der Vorbereitung aber erneut einen Kreuzbandriss. Zwar reichte es in Rio zu Platz fünf, doch es wäre mehr drin gewesen.
„Bei mir gibt es kein Wischiwaschi“
Beide Male hatte sie im Frühjahr noch ein längeres Konditionstrainingslager absolviert und danach zu schnell wieder mit dem harten Kampftraining begonnen. „Wenn es dieses Mal reicht, wird die Vorbereitung auf jeden Fall anders laufen. Dieses Risiko will ich nicht noch einmal eingehen“, sagt sie. Ansonsten wagt sie aber gern einmal etwas. Im Kampf ist sie stets offensiv und nah dran am Gegner, und wenn sie im Training etwas Neues lernt, probiert sie es meist umgehend im Wettkampf aus. „Bei mir gibt es kein Wischiwaschi“, meint sie. Ihre ältere Schwester Claudia war einst ebenfalls eine erfolgreiche Judoka, die bei Welt- und Europameisterschaften auf dem Treppchen stand, doch eine Olympiamedaille hat auch sie nie gewonnen. „Wenn mir das jetzt gelingen würde, wäre unsere Familiensage komplett“, sagt Luise Malzahn. Auch das eine schöne Buchidee.