Berlin. Auf die Frage nach ihrem Karriereverlauf bräuchte Johanna Müller gar nicht viel zu sagen. Es würde genügen, wenn sie ihr Hosenbein hochkrempelt. Dann könnte man all die Narben sehen, die allein am linken Knie von einem halben Dutzend Operationen zeugen.
Vier Mal siegte die Berlinerin im Europacup
Die 29-Jährige zählt zu den besten Judokas in Deutschland: Vier Mal siegte sie im Europacup, dreimal stand sie bei Grand Slams oder Grands Prix auf dem Treppchen, der höchsten Wettkampfkategorie im Judosport. 2012 wurde sie deutsche Meisterin, ein Jahr später vertrat sie Deutschland bei den Weltmeisterschaften in Rio de Janeiro.
Doch sie hatte in ihrer Laufbahn auch immer mit Verletzungen zu kämpfen. Ein wenig erinnert ihr Körper heute an ein Ersatzteillager: Im Knie trägt sie ein Stück ihres Hüftknochens, ein neues Innenband bekam sie vor einigen Jahren von einem Verstorbenen. Wenn sie 2020 wie geplant ihre Karriere beendet, um im Bereich Rehasport ins Berufsleben einzusteigen, muss man sich um mangelnde Praxiserfahrung keine Sorgen machen. Damit kennt sich die Berlinerin bestens aus. Bislang jedoch vor allem aus Sicht der Patientin.
Frustrierende Auszeiten
Aufgegeben hat Müller trotz all der Malaisen nie. „Auf diese Weise wollte ich mich nicht vom Judo verabschieden. Ich lasse mir meinen großen Traum nicht kaputt machen“, sagt sie – die Teilnahme an den Olympischen Spielen. Frustrierend waren die Auszeiten trotzdem. Zumal Müller alles unternahm, um das Problem in den Griff zu bekommen. Sogar ihre Ernährung stellte sie um, nachdem sie erfahren hatte, dass Kohlenhydrate Entzündungen fördern sollen.
„Aber wenn man erst einmal verletzt war, dann bleibt dort immer eine Schwachstelle“, sagt sie. Und wie sehr man sich auch bemühe, diese ganz besonders zu hegen: Am Ende hieße das doch nur, dass im Training stattdessen eine andere Stelle vernachlässigt wird.
Bronze als Mutmacher für Olympia-Qualifikation
Müller hat sich stets zurückgekämpft. Ihr jüngstes Comeback beendete sie Ende Januar mit der Bronzemedaille bei den deutschen Meisterschaften in der Gewichtsklasse bis 57 Kilogramm. Nachdem sie sich im November 2018 das Außenband gerissen hatte, war sie erst Anfang des Jahres ins Training eingestiegen, entsprechend groß war die Freude. „Ich habe mich auch nicht irgendwie durchgemogelt, sondern wieder richtig gute Kämpfe gezeigt“, sagt sie. Das macht Mut für die anstehende Olympiaqualifikation.
Bereits seit dem vergangenen Jahr können die Judoka Punkte für Tokio 2020 sammeln. Dabei zählen die Wettkämpfe ab diesem Sommer doppelt, so dass Johanna Müller trotz mehrerer Verletzungspausen im Vorjahr weiterhin alle Chancen hat, sich zu qualifizieren. Zuvor finden schon die Weltmeisterschaften im August in Tokio statt – ein wichtiger Gradmesser mit Blick auf Olympia.
Liebe zum Sport ist größer als alle Bedenken
„Wer bei der WM nicht dabei ist, dürfte auch ein Jahr später wenig Chancen haben“, so Müller. Beide Events werden in Japan und somit im Mutterland des Judos ausgetragen, was für die Treptowerin ein zusätzlicher Ansporn ist. Über ihre japanische Trainerin bekommt sie täglich mit, wie sehr die Menschen dort den Wettkämpfen entgegenfiebern. Mittlerweile lebt und trainiert Müller in München, doch ihr Herz schlägt weiterhin für Berlin. Seit 1996 startet sie durchgehend für den PSV Olympia, wo sie einst mit dem Kampfsport begonnen hatte.
Ihre alleinerziehende Mutter, früher selbst Judoka, hatte sie und ihre Schwester dazu ermuntert, damit sie am Nachmittag Beschäftigung hatten, während sie selbst noch arbeiten war. Vielleicht hätte sie es sich anders überlegt, wenn sie gewusst hätte, was ihre Tochter ihrem Körper damit antut. Letztlich war die Liebe zum Judo bei Johanna Müller stärker als alle Bedenken. Sie sagt: „Ich hätte nie so lange durchgehalten, wenn es mir nicht trotz alledem so viel Spaß bereiten würde.“