Berlin. – Wenn der Weg nach unten geht, hört der Alltag auf. Jener Alltag, in dem Menschen rücksichtslos in die überfüllte U-Bahn Richtung Alt-Tegel drängen, die Schranke am S-Bahnübergang Tegel passieren, obwohl die schon seit langem heruntergelassen ist, und bei Rot über die Fußgängerampel rasen, wenn sie Richtung Humboldtschule streben.
Jener Alltag ohne Regeln, er hört genau an dieser Schule auf, und man muss nach einem kleinen, abschüssigen Weg eine runde, weiße Tür passieren, um eine ganz neue Welt zu betreten. Voller Respekt, voller Achtung, ja Demut, irgendwie aus der Zeit gefallen. Willkommen beim Training der Ringer-Abteilung des VfL Tegel 1891.
Der Umkleideraum zur Turnhalle beherbergt unter anderem einen „Kreativ-Sport-Schrank“ und einen „Gymnastik-Schrank“ in beigen Farben mit leicht zerschredderten, handgemalten, verschiedenfarbigen Plakaten von Kursen in Jazz-Dance (grau), Barocktanz (rot), Ballett (rosa) und Thai-Tanz (gelb).
Weiße Heizungsrohre, blaue Plastiküberzieher
Es gibt weiße Heizungsrohre, wild durcheinander gewürftelte Schuhe auf dem Boden und blaue Plastiküberzieher für die Füße, die man für den Gang in die Turnhalle überstreifen sollte. Keine Schuhe, keine Handys, die Straße ist draußen.
Statt Radau regiert Respekt, und statt wild zu raufen wird hier nach Regeln gerungen: „Einfach Tschüs sagen ist okay, aber jeder gibt hier jedem erstmal die Hand zur Begrüßung“, sagt Manuel Fuentes, und der muss es wissen.
Der 51-Jährige ist erster Vorsitzender der Ringer-Abteilung des VfL Tegel 1891, und als solcher Leiter des Projekts „Ringen und Raufen an Grundschulen“, das er mit seinem Verein zu Beginn des Schuljahres 2014/15 gestartet hat.
Zunächst mit vier, dann mit fünf, zuletzt sogar mit sechs Grundschulen aus der unmittelbaren Tegeler Umgebung: der Franz-Marc-, Till-Eulenspiegel- und Hoffmann-von-Fallersleben-, der Alfred-Brehm-, der Havelmüller- und der Borsigwalder Grundschule.
Dazu kam im vergangenen Jahr aus dem Wedding noch die Wilhelm-Hauff-Grundschule. Tendenz steigend: Nach den Sommerferien 2016 stoßen zwei weitere Schulen aus Buch und Kreuzberg zu dem Projekt, bei dem in den vergangenen anderthalb Jahren für jeweils zwei, drei Monate im Sport ausschließlich Ringen unterrichtet wurde.
In Berlin gibt es gerade einmal zehn Ringervereine
Aber Moment mal, Ringen? Jene antiquierte Sportart, die mit Carl Schumann 1896 den ersten und leider auch letzten Berliner Olympiasieger sah? Mit Adolf Rieger 1928 den letzten Berliner Medaillengewinner (Silber in Amsterdam) hatte?
Und die bei Werner Seelenbinder nur noch an den Namensträger der (mittlerweile abgerissenen) Halle denkt statt an den Vierten der olympischen Ringerwettkämpfe 1936 in Berlin? Jene Disziplin also, die zuletzt um ihren Verbleib im olympischen Disziplin kämpfen musste? Und gerade einmal zehn Vereine in Berlin hat? Genau die.
Denn: „Wir sind kein Fußball, wir müssen uns um den Nachwuchs kümmern“, sagt Manuel Fuentes. Und ging deshalb dorthin, wo der Nachwuchs sitzt: in die Schulen. Höchstpersönlich.
Zu Direktoren, Lehrern, Schülern. Besuchte das Schulamt, redete mit Eltern, gewann die zuständige Stadträtin als Schirmherrin. Stellte sein Konzept vor: Ringen nach Regeln. Wo es nicht ums Gewinnen geht. Sondern um Kooperationsbereitschaft. Koordinationsfähigkeit.
Das Erkennen und Akzeptieren der eigenen Kraft und Leistungsfähigkeit. Ein Matte-Test fürs Leben, der vor allem eines lehrt: Respekt. Vor der Persönlichkeit des Gegenübers und dem eigenen Limit. Vor der Demut des Sieges und der Kraft der Niederlage. Vor dem Sinn von Regeln und dem Reiz, vor 100 Zuschauern bei einem der bislang drei Schulvergleichsturniere am Ende jedes Projekts vor Eltern, Tanten, Lehrern auf der Matte zu stehen.
Es geht los mit Zieh- und Schiebespielen
Die Schirmherrin ist begeistert: „Der Reiz ist, sich einmal messen zu dürfen in einem Bereich, in dem es um Regeln geht und dabei seine eigenen Kräfte kennenzulernen“, sagt Reinickendorfs Stadträtin für Schule, Bildung und Kunst, Kathrin Schultze-Berndt der Morgenpost. „Es geht darum, Sozialkompetenz zu entwickeln. Diese Frustrationstoleranz – Mensch, da ist ja jemand, der immer nach meinem Bein schnappt – bringt das Kind in seiner Entwicklung weiter.“
Geübt wird jeweils zwei Schulstunden lang: Es geht los mit Zieh- und Schiebespielen („Versuch mal den anderen, von der Matte zu schieben“), um das Hören auf die richtigen Signale („Ihr springt nur bei ,Start’ und ,Stop“) und vor allem um den Umgang miteinander.
„Niemand soll sagen, dass er der Stärkste ist“, warnt Manuel Fuentes. Dann ist er Trainer und Pädagoge zugleich: motiviert die Schwachen, stutzt die Angeber und nimmt die „Verhaltensauffälligen“, wie die Soziologen sie nennen, in den Arm. Vor der ganzen Klasse, 19, 20, mal 24 Kinder. Im Alter von sechs bis neun.
„Der Schwerpunkt liegt auf Gewaltprävention mit drei Grundregeln: 1. Regeln einhalten. 2. Fairness. 3. wenn jemand auf dem Rücken liegt, dann klatscht man nicht“, sagt Marco Mütze, Vizepräsident des Berliner Ringer-Verbandes, der „Ringen und Raufen nach Regeln“ mit großer Freude begleitet. „Dieses Projekt ist genial und das, was wir immer haben wollten.“
Kinder lernen, ihre Kräfte besser einzuschätzen
Diese Zufriedenheit teilt er mit Lehrern, Eltern, Schülern: „Kinder lernen, ihre Kräfte besser einzuschätzen und besser einzusetzen“, sagt Annika Grigoleit, Lehrerin an der Franz-Marc-Grundschule. „Verhaltensauffällige Kinder machen mit, haben sich eingefügt“, weiß ihre Kollegin Heike Knedeisen.
Und: „Man sieht an dem Verhalten auf dem Schulhof, dass die Kinder mit mehr Einfühlungsvermögen spielen, und sie wissen, wann sie aufhören müssen“, hat Catrin Raetz, Lehrerin an der Hoffmann-von-Fallersleben-Schule, beobachtet.
Das Projekt ist nicht nur gut für den Nachwuchs, es fördert auch ein besseres Image der Ringer. „Ich dachte immer, Ringer sind dicke Männer mit Blumenkohlohren“, erinnert sich Annika Langner, bevor ihre neunjährige Tochter Sophia zum Projekt kam.
Und war ganz erstaunt. „Die sind ja so nett. Ich glaube, dass die Sophia selbstbewusster geworden ist. Die hat vorher Ballett und Schwimmen gemacht und ist jetzt ein echtes Kampfschwein.“ Die Neunjährige ist selbst ganz begeistert: „Ich finde das richtig cool, wenn man seine Wut da rauslassen kann.“
Von der Schule in den Verein
Und wer dieses Erfolgserlebnis dauerhaft erleben will, wechselt nach dem Ende des Schulprojekts zum VfL Tegel 1891. „Bisher gab es drei Schul-Runden. Aus den ersten beiden Runden sind jeweils 20 Kinder und aus der dritten Runde 14 Kinder in den Ringerverein eingetreten“, sagt Manuel Fuentes.
Und der hat dienstags und freitags Training in der Turnhalle der Humboldtschule. Dort geht es dann etwas anders zur Sache als vorher in der Schule: Intensiver, leidenschaftlicher, motivierter, aber immer mit Spaß bei der Sache.
Denn ohne den geht es gar nicht. Auch für Trainer und Betreuer im Verein, die das alles ehrenamtlich machen beim VfL Tegel 1891, der sich mit seinen elf Abteilungen von Handball bis Turnen ganz dem Breitensport verpflichtet fühlt.
„Schöner Schulterschwung“
Also los: Aufwärmen, Spiel mit Bällen, Gymnastik. Übungen für die Nackenmuskulatur, Krebsgang vorwärts und rückwarts, Technik verfeinern. Und im Zentrum: der Ringkampf. Zum Beispiel der des 14-jährigen Maximus mit dem und ein Jahr jüngeren Arthur.
Weil sie schon über zwölf sind, dürfen sie bereits offiziell im freien Stil ringen. Das ist das Alter, in dem die Trennung erfolgt von Griechisch-Römisch und Freistil, auch das gemeinsame Ringen von Jungen und Mädchen ist ab diesem Alter untersagt.
Jetzt also der Kampf – und los: „Suchen, Festhalten und Lösen, schöner Schulterschwung“, lobt Manuel Fuentes die beiden Jungs, die mit Eifer bei der Sache sind. Auch anschließend.
Dann werden gemeinsam die beiden Matten weggetragen, werden Bänke gerückt, die Hände gegeben und die blauen Überzieher im Vorraum abgestreift und die Schuhe angezogen. Draußen wartet der Alltag. Aber die kleine Steigung vor der Tür nimmt man nun mit Schwung.