Garmisch-Partenkirschen. Karl Geiger ballte seine Hände zu Fäusten, als er im Auslauf der Garmischer Olympiaschanze die langen Skier abgeschnallt und an seiner Schulter angelehnt hatte. Ein paar Meter von ihm entfernt kam Markus Eisenbichler zur Werbebande des altehrwürdigen Skisprungstadions gelaufen und entledigte sich dort aller Emotionen, die sein Zimmerkollege in ihm hervorgerufen hatte.
Sie beide wussten: Das war richtig gut, 141,5 Meter war Geiger gesprungen, noch einen halben Meter weiter als Ryoyu Kobayashi eben zuvor. Und es sollte genügen, den japanischen Flugdominator beim Neujahrsspringen der Vierschanzentournee endlich mal zu bezwingen.
„Der Flug hat sich supergut angefühlt, das war richtig cool“, sagte Geiger später. „Ich hatte nach Kobayashis Sprung gehört, dass es laut war, dass er also weit gesprungen war. Also dachte ich mir: Jetzt klopfe ich auch einen raus.“
Marius Lindvik springt Schanzenrekord
Das tat der 26 Jahre alte Oberstdorfer in tollkühner wie beeindruckender Manier – auch wenn es schon wie beim Auftakt am Sonntag nicht zum Tagessieg, aber zum erneuten Podestplatz reichen sollte. „Ich könnte mich daran gewöhnen“, erzählte Geiger strahlend. „Ein extrem schönes Gefühl.“
Nach seinem ersten Durchgang, als ihm der erbarmungslose Rückenwind gefühlt einen Rucksack mit schweren Steinen aufgesetzt und ihn nach unten gedrückt hatte, fasste sich Geiger noch enttäuscht an den Helm. Die zweite Hälfte seines Tagwerks brachte ihm dann aber doch noch den zweiten Platz (285,0 Punkte) hinter Marius Lindvik (289,8) ein.
Der norwegische Überraschungssieger war in den K.o.-Duellen der ersten Runde als zweiter Skispringer nach Simon Ammann (2010) auf die Garmischer Rekordweite von 143,5 Meter hinuntergesegelt.
Japaner Kobayashi verpasst sechsten Tagessieg in Folge
Dritter wurde wie schon in Oberstdorf der Pole Dawid Kubacki (284,0). Kobayashi (282,1), der seinen sechsten Tagessieg in Serie damit verpasste, büßte in der Tourneewertung ein wenig ein und liegt nun nur noch 6,3 Punkte vor Geiger. Kubacki sitzt diesem mit 2,2 Punkten Rückstand im Nacken.
Trotzdem riskierte Geiger schon mal einen flüchtigen Blick auf goldenen Adler, den Jahr für Jahr der Beste nach vier Springen als Siegtrophäe in den Händen hält. „Aber noch heißt es: gucken und nicht anfassen“, sagte der Gesamtelfte des letzten deutsch-österreichischen Schanzen-Spektakels. Es klingt immer so fad, wenn Sportler betonen, sich allein auf die nächste Aufgabe zu konzentrieren und nicht bezüglich des großen Ganzen im Hinterkopf das „Was wäre, wenn?“ durchzuspielen.
Karl Geiger konzentriert sich nur auf sich selbst
Aber Geiger, der im Gegensatz zu den strauchelnden Mitfavoriten Stefan Kraft (Österreich) und Kamil Stoch (Polen) weiterhin die Chance auf den Gesamtsieg hat – den ersten deutschen seit Sven Hannawald 2001/2002 – verfolgt damit noch ein anderes Ziel.
„Ich versuche das auszublenden, denn das ist die erste Chance, sich ablenken zu lassen. Es bringt mir nichts zu schauen, wie Ryoyu springt. Ich kann nur meine eigenen Sprünge beeinflussen.“ Seinen Bundestrainer brachte Geiger auch so ins Schwärmen: „Man kann ihm nur gratulieren, wie er den Druck managt“, sagte Stefan Horngacher. „Er lässt sich nicht beirren, zieht sein Ding gnadenlos durch und wächst immer weiter.“
Constantin Schmid wird Siebter, Markus Eisenbichler Zehnter
Geiger ist die tragende Säule eines starken deutschen Teams. Constantin Schmid (21) schaffte als Siebter sein bestes Tournee-Resultat, Geiger-Spezi Eisenbichler wurde Zehnter, der Willinger Stephan Leyhe kam auf Platz 16. Eisenbichler weiß genau, wie man sich an einem Teamkollegen hochziehen und so weiter springen kann. „Es ist echt cool, wie es zurzeit im Team läuft. Wir pushen uns gegenseitig, man lernt miteinander“, so der Dreifach-Weltmeister.
Geiger versucht, so rational wie möglich zu bleiben, wo alles um ihn herum gerade äußerst gefühlsintensiv erscheint: „Es macht brutal viel Spaß, hilft mir aber im Moment sehr, von Sprung zu Sprung zu denken. So wie heute will ich in Innsbruck weitermachen.“
Beim dritten Tourneespringen am Bergisel wurden schon des Öfteren deutsche Siegeshoffnungen zerstört. Wobei Geiger es laut Eisenbichler gar nicht nötig hätte, sich zu grämen, sollte dieser auch am Sonnabend nicht Erster werden: „Wenn er die ganze Zeit Zweiter wird und die Tournee gewinnt, ist es auch gut.“