Berlin. Für so einen Schritt musste dann mal Vincent van Gogh herhalten. „Was wäre das Leben, hätten wir nicht den Mut, etwas zu riskieren“, zitierte Gina Lückenkemper den niederländischen Maler, als sie am Dienstag bekannt gab, wie ihr Trainingsalltag in Zukunft aussehen wird. Die Sprinterin vom SCC Berlin hat sich für eine Luftveränderung entschieden, schließt sich der Trainingsgruppe von US-Coach Lance Brauman in Clermont (Florida) an.
„Ich möchte Fuß fassen in der Weltspitze und bin bereit, den entsprechenden Aufwand dafür zu betreiben“, sagte die 22-Jährige, die aber weiterhin für den SCC an den Start gehen wird. Ein solcher Schritt ist in der Tat mutig, war aber gerade nach Lückenkempers durchwachsener Saison durchaus erwartbar. Die Silbermedaillengewinnerin von Berlin 2018 hatte nicht an ihre Leistungen aus der EM-Saison anknüpfen können. Sowohl bei den deutschen Meisterschaften, als sie in 11,22 Sekunden hinter Tatjana Pinto landete, als auch bei der WM in Doha, wo sich die Deutsche im Halbfinale (11,30 Sekunden) geschlagen geben musste, kam Lückenkemper kaum in die Nähe der magischen Elf-Sekunden-Marke.
Spitzenathleten wie Doppel-Weltmeister Lyles trainieren in Clermont
Das dauerhafte Training allein, zudem an unterschiedlichen Orten war nicht leistungssteigernd. Also muss nun ein neuer Impuls her, was gleichzeitig den Abschied von Trainer Uli Kunst bedeutet, der Lückenkemper seit 2015 betreute. „Hier habe ich die Möglichkeit, täglich mit Weltklasse-Sprintern zu trainieren, und dies unter hervorragenden Bedingungen“, schrieb Lückenkemper bei Instagram. „Ich bin sehr gespannt auf die kommende Zeit, und eines kann ich euch jetzt schon sagen: Die nächsten Wochen werden wehtun, sehr wehtun!“
Die 10,95-Sekunden-Sprinterin wird sich gemeinsam mit 20 weiteren Leichtathleten, unter ihnen auch Spitzensportler wie Doppel-Sprint-Weltmeister Noah Lyles (USA) und 400-Meter-Olympiasiegerin Shaunae Miller-Uibo (Bahamas), quälen, für ein Ziel: die Olympischen Spiele in Tokio 2020 (24. Juli bis 9. August). Lückenkempers übergeordnetes Ziel aber ist das Erreichen eines Einzelfinales – bei Olympia oder Weltmeisterschaften. Deshalb soll die Zusammenarbeit mit Brauman bis nach der WM 2021 in Eugene (USA) laufen.
Erst einmal sind nun drei Aufenthalte in der 28.000-Einwohner-Stadt Clermont angesetzt. Jeweils sechs Wochen will die Berlinerin dort trainieren, ihre erste Einheit absolvierte Lückenkemper bereits am Montag. Dass in Florida vor allem im Winter bei Temperaturen zwischen 20 und 30 Grad angenehme Sprint-Bedingungen herrschen, weiß die gebürtige Soesterin aus eigener Erfahrung. Schon mehrmals hatte der Sprintkader des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) seine Trainingslager in Clermont ausgerichtet. Und auch in Vorbereitung auf Tokio treffen sich Deutschlands Topsprinter im kommenden April in Florida.
Auch Trainer Brauman ist bereits mit Doping in Kontakt gekommen
Doch wie schon beim mittlerweile geschlossenen Nike Oregon Project, bei dem WM-Bronzegewinnerin Konstanze Klosterhalfen trainierte und dessen Coach Alberto Salazar wegen dubioser Doping-Praktiken gesperrt wurde, ist auch die Trainingsgruppe von Brauman nicht unumstritten. Der Amerikaner führte den des Doping überführten US-Sprinter Tyson Gay 2007 zu drei WM-Titeln – während er selbst wegen Betrugs, Diebstahls und Veruntreuung im Gefängnis saß. Zudem wurde Brauman immer wieder mit positiv getesteten Athleten in Verbindung gebracht.
Anders als bei Klosterhalfen, die für ihren Wechsel nach Oregon Kritik hatte einstecken müssen, nahm der DLV Lückenkempers Wechsel allerdings positiv auf: „Der DLV unterstützt individuelle Lösungen für seine Athleten“, sagte Sprint-Bundestrainer Ronald Stein. Und Chef-Bundestrainer Alexander Stolpe hofft, „dass der Kommunikationsprozess mit Gina weiterhin optimal gestaltet wird“. Die Hallensaison lässt Lückenkemper jedenfalls aus, um sich intensiv auf den Sommer vorzubereiten. So viel Risiko will sie auf dem Weg nach Tokio dann doch nicht eingehen.