Rune Jarstein wird sein Rekordspiel in schlechter Erinnerung behalten. In Bremen absolvierte der Torwart von Hertha BSC sein 101. Bundesliga-Spiel. Vor der Partie unterzog er sich noch einer Ultraschalluntersuchung am maladen Oberschenkel. Als es ans Aufwärmen ging, war Jarstein blass und nicht so sicher wie gewohnt. Dass Hertha beim SV Werder 1:3 verlor, war nicht die Schuld von Jarstein. Aber zur Pause wurde die Notbremse gezogen: Jarstein blieb in der Kabine, fortan spielte Thomas Kraft.
Insofern wird es Jarstein nicht so wichtig sein, dass er im Weserstadion mit zwei Torwart-Legenden von Hertha gleichgezogen hat: Volkmar Groß kam zwischen 1967 und 1972 ebenso auf 101 Bundesliga-Einsätze wie Norbert Nigbur von 1976 bis 1979.
Jarstein auf Augenhöhe mit Nigbur und Groß
Groß und Nigbur sind die großen Torhüter-Namen aus einer anderen Hertha-Zeit. So sehr sich der Fußball von den 70ern bis heute verändert hat: Was geblieben ist, ist die Sehnsucht der Fans. Bei aller Schnelllebigkeit, bei all den Veränderungen bleibt die Sehnsucht nach Stützpfeilern, nach Namen, an denen man sich orientieren kann. Das Gedächtnis der Fans auf dieser Position ist brutal. Entweder erinnert man sich, weil es ein guter Torwart war – siehe Jarstein, Nigbur oder Groß. Oder man erinnert sich, weil der Torwart schlecht war. An die anderen erinnert man sich eh nicht mehr.
Derzeit wird viel über Tradition diskutiert, über den richtigen Umgang damit. Inwiefern Tradition Vereinen hilft, oder ob Tradition die Entwicklung hemmt. Einer, der die Hertha-Fahne seit vielen Jahren trägt, ist Fabian Lustenberger. Wenn Trainer Pal Dardai den Schweizer am Freitag aufstellt, holt Lustenberger Michael Preetz ein. Der Rekordtorjäger und heutige Manager hat 196 Bundesligapartien für Hertha absolviert.
Neun Herthaner weilen im 200er-Klub
Bleibt Lustenberger (195 Bundesliga-Einsätze) fit und gesund, wird er womöglich noch in diesem Jahr dem exklusivsten Zirkel beitreten, den Hertha zu bieten hat: dem 200er-Klub.
Bei anderen Bundesligisten, die 50 Jahre und mehr in der obersten deutschen Liga dabei sind, liegt man damit irgendwo im gehobenen respektablen Mittelfeld. Aber bei Hertha ist der Kreis klein: Seit der Liga-Gründung 1963 haben lediglich neun Profis 200 oder mehr Bundesliga-Partien absolviert, vornweg der Rekordspieler und aktuelle Cheftrainer Pal Dardai (286). Auch hier folgen mit Michael Sziedat (280), Holger Brück (261) und Erich Beer (253) Vertreter jener anderen Hertha-Ära.
In der Fußball-Moderne, in der ein Vereinswechsel meist auch einen saftigen Gehaltssprung bedeutet, ist es selten, dass ein Profi mit dem gleichen Arbeitgeber in die zwölfte Saison geht – wie Lustenberger. Über den Defensivspieler lässt sich Ähnliches sagen wie über Jarstein: arbeitsam, professionell, teamfähig, skandalfrei, kein Lautsprecher. Das ist das Holz, aus dem Herthas Dauerbrenner geschnitzt sind.
Tradition ist nicht das Anbeten der Asche
Am vergangenen Sonntag gab es bei der Partie von Frankfurt gegen RB Leipzig ein Spruchband der Eintracht-Fans: „Nehmt all unser Geld. Was wir haben, könnt ihr nicht kaufen.“ Schon klar, es geht um Tradition. Es bleibt aber die Frage, wie das Diktum mit Leben zu füllen ist: „Tradition ist nicht das Anbeten der Asche, sondern das Weitertragen der Flamme.“
Anhänger haben ein feines Gespür, welche Spieler sich wie sehr mit ihrem Klub identifizieren. Das hängt nicht davon ab, wer wie oft das Vereinsemblem küsst. Dass etwa Lustenberger mit Hertha gleich zweimal den Gang in die Zweite Liga mitgemacht hat (2010 und 2012), rechnen ihm die Fans hoch an. Auch wenn er am Dienstag bei der 1:3-Pleite in Bremen keine zwingende Bewerbung abgegeben hat, warum er gegen die Bayern in der Startelf stehen muss: Es war ja kein Zufall, dass am Sonnabend im Olympiastadion beim Verlesen der Aufstellung gegen Gladbach ein Herthaner aus der Ostkurve heraus mit einem donnernden Zusatz begrüßt wurde: Stadionsprecher: „Mit der Nummer 28 – Fabian ...“, Ostkurve: „Lustenberger – Fußballgott“.