Berlin. Ohne Gebetbuch geht Ken Milde nie auf die Strecke, da macht der 39-jährige Rallyefahrer vom Motorsportclub Auto-Mobil Berlin keine Ausnahme. So wird nämlich das kleine Heft mit Aufzeichnungen genannt, mit dessen Hilfe sein Beifahrer ihm unterwegs Daten zum Verlauf der Strecke, Kurvenradius, Geschwindigkeit und zur Beschaffenheit des Belags übermittelt. Im Wagen von Milde übernimmt diese Aufgabe meist sein langjähriger Co-Pilot Michael Mai (41). „Er ist mit seinen Gedanken immer schon zwei Kurven weiter, was es mir überhaupt erst ermöglicht, so schnell zu fahren“, sagt Milde.
Die beiden vertrauen sich blind. „Die Abstimmung zwischen Fahrer und Beifahrer ist das A und O beim Rallyefahren“, erklärt Milde. Daneben sind fahrerisches Talent sowie ein Gespür für die Technik gefragt, das der Mahlsdorfer als Kfz-Meister mitbringt. Nicht zu unterschätzen sei auch die körperliche Belastung: In Kurven und bei der Landung nach bis zu 20 Meter weiten Sprüngen wirken jedes Mal große Kräfte auf den Körper ein.
Im Innenraum herrschen oft Temperaturen von 60 Grad
Vor allem aber ist es im Fahrzeug heiß wie in der Sauna. Selbst im Sommer dreht Milde die Heizung auf, um dem Motor Wärme zu entziehen und so ein Überhitzen zu verhindern. Im Innenraum steigen die Temperaturen dadurch auf rund 60 Grad. „An einem Renntag nehme ich locker zwischen drei und dreieinhalb Kilo ab“, sagt er.
Milde fährt einen Mitsubishi Lancer Evolution VIII mit Allradantrieb und 340 PS. Es ist weniger die Höchstgeschwindigkeit von 215 Kilometern pro Stunde, die das Auto zu einem perfekten Rallyefahrzeug macht, sondern die enorme Beschleunigung selbst auf rutschigem Untergrund. Sogar auf Schotter schafft es der Wagen in viereinhalb Sekunden von null auf hundert. Das Auto hat einen Überrollkäfig, spezielle Rennsitze sowie eine Art Sprinkleranlage, falls es nach einem Unfall Feuer fangen sollte.
Alles fing mit einem alten Skoda für 50 D-Mark an
Nicht im Reglement vorgeschrieben, aber immer dabei ist das rosa Plüsch-Schwein im Fond, das Ken Milde begleitet, seit er vor 28 Jahren mit dem Motorsport begann. Damals war er noch Ringer, kämpfte bundesweit ganz vorn mit. Nebenbei begann er mit dem Kartfahren und schaffte es dort bis in das Nachwuchsteam von Formel-1-Legende Michael Schumacher.
1997 musste Milde aufhören, weil der Kartsport seinen Eltern zu teuer wurde. Der Motorsport ließ ihn nicht los. Also kaufte er sich 2000 für 50 D-Mark einen alten Skoda Favorit, baute ihn um und begann mit dem Rallyefahren – so wie zu DDR-Zeiten sein Vater Frank, heute Vizepräsident des Allgemeinen Deutschen Motorsport-Verbands (ADMV). 2005 musste Milde nach einem Wirbelsäulenbruch infolge eines Unfalls erneut zwei Jahre pausieren. Er schaffte es wieder bis in die nationale Spitze. Auf einmal war er in der Szene bekannt. Für Werbespots und Filmaufnahmen wurde er als Fahrer gebucht.
Im Rallyesport gibt es nicht selten tödliche Unfälle
Für den Sprung zu den Profis reichte es nicht. Stattdessen holte er 2016 den Sieg im DMSB-Rallye-Cup, quasi die deutsche Meisterschaft für Amateure. 2017 wurde er Vizemeister. Aktuell liegt er im Schotter-Cup weit vorn, einer Rennserie, bei der nur auf losem Untergrund gefahren wird. An diesem Wochenende tritt er in Sachsen an. Die meisten Rennen sind Ein-Tages-Veranstaltungen. Sieger ist, wer bei den einzelnen Wertungsprüfungen insgesamt die schnellste Zeit hinlegt. Diese finden auf abgesperrten Strecken statt. Dazwischen gibt es jeweils Verbindungsetappen, bei denen die Rallyesportler ganz normal am öffentlichen Straßenverkehr teilnehmen und sich dementsprechend auch an die Verkehrsregeln halten müssen. „Auch wir stehen wie alle Autofahrer manchmal im Stau“, sagt Ken Milde.
Im Internet ist jedoch ein Video der Hit, das keinen seiner größten Erfolge zeigt, sondern einen Crash bei der Fontane-Rallye in Neuruppin. 2016 waren Milde und Mai nach einem Unfall im Wassergraben versunken. „So etwas wollen die Leute sehen“, sagt Milde und berichtet, dass zum Teil sogar die Sponsoren nicht unglücklich sind über solche Vorfälle, weil damit nun einmal die meiste Aufmerksamkeit erzeugt wird.
Der Berliner sieht das kritisch. Er weiß, wie gefährlich der Rallyesport ist, es kommt auch zu tödlichen Unfällen. Die Autos sind zwar langsamer unterwegs als beispielsweise in der Formel 1, doch auf den engen Strecken gibt es keinerlei Auslaufzone. Ken Milde meint: „Wenn wir einen Fehler machen, krachen wir sofort frontal in den Baum.“ Dann hilft nur noch ein Stoßgebet.