Berlin. Er war 2003 deutscher Mehrkampf-Meister im Turnen, seit einem Unfall in der Olympiavorbereitung 2004 ist Ronny Ziesmer (37) querschnittgelähmt. Statt ihm fuhr ein gewisser Fabian Hambüchen zu den Spielen nach Athen und sammelte mit „Harry-Potter-Brille“ Erfahrungen, die 2016 im Olympiasieg gipfelten. Als Hambüchen (29) Dienstag bei der Turnfest-Gala verabschiedet wurde, war auch Ziesmer dabei.
Was bedeutet das Deutsche Turnfest für Sie?
Ronny Ziesmer: Es ist ein Familientreffen des Turnsports. Das Besondere ist die Mischung aus Leistungs- und Breitensport, aus Olympiateilnehmern und Hobbysportler. Ich war 1994 in Hamburg das erste Mal dabei; am erfolgreichsten war ich 2002 in Leipzig, als ich Vizemeister im Mehrkampf wurde. Und natürlich habe ich das Turnfest auch nach meinem Unfall weiterhin intensiv verfolgt. Die Veranstaltung zeigt die gesamte Bandbreite unseres Sports, zu dem ja nicht nur das Geräteturnen gehört, sondern noch viele andere Disziplinen. Wenn die ganze Stadt voll ist mit Turnern, dann merkt man erst einmal, wie groß der Turnsport in Deutschland ist. Das vergisst man sonst manchmal, weil darüber wenig berichtet wird.
Zuletzt sorgten die Turner allerdings für Schlagzeilen. In Rio gab es zwei Olympiamedaillen, zudem berührte die Geschichte von Andreas Toba, der trotz Verletzung für das Team weiterturnte, viele Herzen. Reck-Olympiasieger Fabian Hambüchen wurde zum Sportler des Jahres gewählt.
Stimmt, die Ausbeute in Rio war sehr gut. Aber Hambüchen hat nun aufgehört; zudem turnt Marcel Nguyen keinen Mehrkampf mehr, konzentriert sich auf Barren und Ringe. Die beiden zu ersetzen, wird schwer. Es wird keinen Totalabsturz geben, weil gute Turner wie Lukas Dauser nachrücken. Trotzdem darf man nicht erwarten, dass es immer so gut läuft wie in Rio.
Lukas Dauser und Tabea Alt haben Star-Potenzial
Hambüchen hat mittlerweile ein Comeback auf großer Bühne ausgeschlossen, nachdem es Gerüchte gab, er würde bis zu Heim-WM 2019 in Stuttgart weitermachen. Die richtige Entscheidung?
Ich bin nicht in der Position, um ihm Ratschläge zu geben. Körperlich wäre er sicherlich in der Lage gewesen weiterzumachen. Aber ich bezweifele, ob er noch einmal einen solchen Abschluss hinbekommen hätte wie in Rio mit Gold am Reck. Von daher war es vermutlich die richtige Entscheidung.
Hambüchen war das Aushängeschild seiner Sportart und in den Medien präsent. Die meisten anderen Turner sind eher introvertiert. Kann das ein Problem werden?
Natürlich lässt sich das Turnen leichter vermarkten, wenn man solche Stars wie Hambüchen hat, die auch mal den Mund aufmachen. Aber ich kann das Verhalten der anderen Turner nachvollziehen. Solange sie selbst noch nicht so erfolgreich sind, halten sie sich lieber zurück, ehe ihnen eine unbedarfte Aussage auf die Füße fällt. Erst einmal Leistung zeigen und erst dann die große Klappe haben: Das ist einfach gesünder. Aber ich bin mir sicher, dass sie in diese Aufgabe hineinwachsen werden.
Wer hat das Zeug zum neuen Gesicht des deutschen Turnsports?
Lukas Dauser hatte ich ja schon erwähnt, er ist momentan sehr stark. Aber auch Tabea Alt hat das Zeug zum Star, wenn sie gesund bleibt. Insgesamt bin ich mit den jüngsten Ergebnissen sehr zufrieden. Bei der EM Anfang April in Rumänien haben sowohl die Männer als auch die Frauen vordere Plätze erreicht. Das ist wichtig, wenn man auch im Oktober bei der WM in Montreal etwas erreichen will. Für den frühen Zeitpunkt der Saison und zu Beginn des neuen Olympiazyklus‘ war das ein guter Anfang. Vor allem am Barren ist der DTB stark besetzt. Dagegen sind wir an den Ringen und in der einstigen Paradedisziplin Pauschenpferd aktuell etwas schwächer.
Kaum noch Platz für reine Spezialisten
Zu Ihrer aktiven Zeit konnten international fast nur die Männer mithalten. Mittlerweile haben die Frauen aufgeholt. Wie bewerten Sie die Entwicklung im deutschen Frauenturnen?
Die Frauen haben sich sensationell entwickelt. Die gute Arbeit von Bundestrainerin Ulla Koch zahlt sich aus. An den verschiedenen Stützpunkten werden die Talente sehr gut gefördert. Das ist auch wichtig, denn wenn uns ein Talent wegbricht, dann warten dahinter nicht schon tausend neue wie in China. Wir müssen mit den wenigen Spitzenathleten, die wir haben, deshalb klug arbeiten, um sie nicht zu verheizen. Nicht maximal trainieren, sondern optimal. Ich kann deshalb auch nachvollziehen, dass Tabea Alt beim Turnfest nicht am Start ist, weil sie auch einmal eine Pause benötigt.
Inwieweit hat sich das Turnen seit Ihrer aktiven Zeit verändert?
Die Vielseitigkeit ist noch wichtiger geworden. Bei den nächsten Olympischen Spielen 2020 in Tokio werden in der Mannschaft nur noch vier statt wie bisher fünf Starter zugelassen sein, die dann aber alle Disziplinen gut beherrschen müssen. Für reine Spezialisten ist kaum noch Platz. Ich finde das gut: Es belohnt all jene, die alle Geräte intensiv bearbeiten. Ansonsten hat sich der Schwierigkeitsgrad seit meiner aktiven Zeit noch einmal deutlich gesteigert. Was früher hoch bewertet wurde, ist mittlerweile schon Standard.