Berlin. In Berlin sind die Weltmeisterschaften im Schnell- und Blitzschach mit einer Überraschung zu Ende gegangen.
Wie sieht eigentlich ein eingefleischter Schachfan aus? Bei radikalen Fußball-Anhängern, den sogenannten Ultras, ist die Sache ja klar: Schal in Vereinsfarben, Aufnäher auf der Kleidung, kehliger Grölgesang, gern auch mal Pyrotechnik. Aber beim Schach?
Erste Vermutung beim nasskalten Warten vor den Bolle-Festsälen in Moabit: Der da könnte einer sein. Ein Mittsechziger mit Plastiktüte, fleckiger Schirmkappe und diesem halb abwesenden Blick, dem man bei Schachspielern häufig begegnet.
Er sieht aus, als wäre die Sizilianische Verteidigung sein Glaubensbekenntnis und das Königsgambit sein Lebenselixier. In der Hand trägt er ein zerlesenes Buch. Ein Spieler ist darauf abgebildet.
„Mögen Sie Schach?“, frage ich.
„Machen Sie Witze? Warum krieche ich wohl bei dieser Kälte durch den Regen?“
Ich deute auf das Buch. „Sind Sie wegen Carlsen hier?“
„Ja“, sagt er, und sein Blick bekommt etwas Träumerisches. „Magnus.“
Magnus Carlsen, der 24-jährige Weltmeister aus Norwegen, ist der unbestrittene Star der Schnell- und Blitzschachweltmeisterschaften. Er dominiert, das merkt man hier sehr schnell. Für ihn ist der zentrale Platz auf dem Podium reserviert, obwohl dort normalerweise der aktuelle Spitzenreiter des Turniers sitzt.
„Blitzschach ist wie schneller, schmutziger Sex“
Aber das norwegische Fernsehen möchte jede Regung des Landeslieblings mit seinen Kameras einfangen und diese nicht im raschen Wechsel der Partien dauernd umbauen müssen. Außerdem ist Carlsen der einzige, der Sponsorenaufnäher an seiner Kleidung trägt.

Und er leistet sich Allüren: Kurz vor dem Rundenbeginn, wenn schon alle anderen Spieler angespannt an ihren Brettern sitzen, ist er meistens noch nicht da, er kommt erst wenige Sekunden vor dem Start in die Arena.
Dann ruht alle Aufmerksamkeit auf ihm. Magnus Carlsen wirkt wie einer, der das zu schätzen weiß. Im Schnellschach hat er am Vortag schon alle hinter sich gelassen, warum soll er es diesmal nicht?
Knapp hundert Tische mit Schachbrettern hat man im Festsaal aufgebaut. Beim Blitzschach hat jeder Spieler drei Minuten pro Spiel und bekommt für jeden Zug zwei Sekunden gutgeschrieben. Um es klar zu sagen: Wer dem Spiel eher sporadisch zugetan ist, wird sich hier fühlen wie jemand, den es mit der Kenntnis von zwei chinesischen Wörtern nach Peking verschlägt.
„Blitzschach ist wie schneller, schmutziger Sex“, hat der Rapper Smudo mal gesagt, aber Groß- und Weltmeistern dabei zuzusehen: Das ist vor allem eine schnelle und schmutzige Demütigung der eigenen Intelligenz.
Atemberaubendes Tempo und Witze über Frisuren
Das Problem ist die Geschwindigkeit. Nach noch halbwegs bekannten Eröffnungszügen variieren Schwarz und Weiß ihre Positionen in einem so dramatischen Tempo, dass man am liebsten die Uhr anhalten würde, um einmal kurz für fünf Sekunden über eine Stellung nachzudenken.
Dagegen gibt es zwei Strategien. Man kann in der Nebenhalle den Livekommentar des deutschen Großmeisters Jan Gustafsson verfolgen, der hilfreiche Übersetzungsarbeit leistet und nebenher hübsche Witze über die Frisuren einiger Spieler einstreut.

Oder man kann die Körpersprache der Spieler selbst studieren. Die Anspannung Carlsens etwa, als er sein Spiel gegen den Russen Alexander Grischuk verliert. Als sich seine Lage verdüstert und Grischuks Steine ein immer dichteres Netz um seinen König ziehen, presst er seine Schultern zusammen, und man befürchtet, er würde das Spielbrett gleich anschreien. Als er schließlich aufgeben muss, springt er auf, schlägt frustriert die Hände zusammen und rauscht aus der Halle.
Es ist ein Bild, das sich im Lauf des Tages erstaunlich oft wiederholt. Carlsen schwächelt, schon vor dem Ende der letzten Runde liegt er hoffnungslos hinter den Wertungsführern zurück. Am Ende entscheidet der Russe Alexander Grischuk das Turnier für sich. Magnus Carlsen ist auch nur ein Mensch. Viele dürfte das beruhigen.