Menschliche, sportpolitische und finanzielle Widerstände überall: Werden die Testverfahren nicht bald ernsthaft umgesetzt, ist ein Doping-Skandal auch in Deutschland nur noch eine Frage der Zeit. Sagt Perikles Simon, Entwickler eines Nachweisverfahrens für Gendoping und in regem Austausch mit der Welt-Antidoping-Agentur. Der Sportmediziner der Gutenberg-Universität in Mainz forderte eine Aufklärung der Interessenskonflikte im Antidoping-Kampf.
Berliner Morgenpost:Herr Simon, die internationale Leichtathletik-Szene hat auf die Dopingfälle um die Sprinter aus den USA und Jamaika einigermaßen überrascht reagiert. Sie auch?
Perikles Simon:Nein, ich bin davon ausgegangen, dass die IAAF (Weltleichtathletikverband, d.R.) jetzt härter durchgreift. Aber sie muss auch offenlegen, warum sie das tut. Ich darf Ihnen den Grund allerdings nicht nennen.
Ist es Zufall, dass ausgerechnet so viele Sprinter zu verbotenen Substanzen gegriffen haben?
Es trifft auf alle Disziplinen zu. Wenn man sich die Geschichte der Doping-Fälle anguckt, sieht man: Es beschränkt sich nicht nur auf den Sprintbereich. Die Leichtathletik oder beispielsweise der Radsport stehen für mich dopingtechnisch nicht mehr im Fokus als es andere Sportarten sollten.
Die aktuellen Fälle sind nicht die einzigen, die in der Leichtathletik dieses Jahr aufgedeckt wurden. Sind die Tests tatsächlich besser geworden, wie Clemens Prokop, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands, sagt?
Nein, das ist zumindest nicht der Hauptgrund für diese Fälle. Es gibt eine Stellungnahme der Welt-Antidoping-Agentur (Wada) zur Frage der Effektivität von Tests vom März 2013, in der die Spezialisten sagen: Es liegt nicht am wissenschaftlichen Stand der Dopingbekämpfung, dass Athleten nicht ausreichend positiv getestet werden. Dort wird ganz klar von eine Ineffektivität des aktuellen Kontrollsystems ausgegangen, welche sportpolitisch und menschlich begründet ist.
Ein sportpolitischer Grund wäre das mangelnde Interesse der Verbände an Aufklärung. Was sind menschliche Gründe?
Da wäre zum Beispiel der Kontrolleur, der sich bestechen lässt. Es gab im deutschen Handball einen Fall, in dem eine Kontrolleurin den eigenen Urin abgegeben hat. Wir wissen von Sportlern, die, obwohl sie von ihrer positiven A-Probe wussten, versucht haben, das Labor zu bestechen. Das sind Hinweise darauf, dass die Möglichkeiten der Einflussnahme auf das Kontrollsystem nach aller Möglichkeit ausgeschöpft werden.
Der US-Sprinter Tyson Gay behauptet, dass er „schlecht beraten“ wurde.
Wir wissen aus den Gerichtsprozessen um Eufemiano Fuentes oder Stefan Matschiner: Die Athleten scheinen zu vertrauen. Offensichtlich genügt es, wenn man als Arzt eine bestimmte Menge an Top-Athleten "unter Vertrag" hat, um ausreichend Vertrauen indirekt herzustellen. Wenn man weiß: Bestimmte Athleten sind alle von demselben Arzt medizinisch beraten worden, kann man als Dopingbekämpfer mit denselben Analysen erfolgreich sein.
Ihr Kollege Mario Thevis vom Zentrum für präventive Dopingforschung in Köln hat vor vier Jahren gesagt: „Wir werden nie auf Augenhöhe sein.“ Was hat sich seitdem an den Testverfahren verbessert.
Die sind zwar kontinuierlich besser geworden. Aber: Die Möglichkeiten zu dopen sind es auch. Dieses Hase-und-Igel-Rennen würde ich nur insofern kritisch sehen, als dass es momentan nicht der Hauptgrund dafür ist, dass die Tests unrealistische Dopingquoten liefern. Der Hauptgrund ist der mangelnde Wille der Verbände. Hat ein Verband den Willen und zeigt, dass geeignete Verfahren flächenmäßig eingesetzt werden, dann sähe es mit der Aufdeckungsquote ganz anders aus. Das haben wir im Radsport gesehen, das sehen wir jetzt in der Leichtathletik. Ich hoffe, das noch mehr Sportarten dazukommen, nur dann werden sich die Verbände fragen müssen: Was haben wir eigentlich die letzten zehn Jahre gemacht?
Das klingt insgesamt sehr zermürbend.
Dazu kommt: Das Antidoping-System in Deutschland wird pro Stückzahl finanziert. Je mehr negative Proben darunter sind, desto höher ist der Profit. Mit jeder positiven Probe haben sie ein echtes Problem. Stellen Sie sich vor, ein Top-Athlet wird erwischt: Zuerst melden sich seine Anwälte und fordern alle Datendokumente an, um zu überprüfen, ob der Test lupenrein ablief, ob das Gerät um 8.30 oder um 11 Uhr geeicht wurde und so weiter. Es wird alles durchleuchtet. Das ist unglaublich zermürbend, wie mir Kollegen national und international immer wieder berichten. Bei einer Quote von zehn Prozent positiver Tests wäre das System nicht mehr praktikabel, was wiederum die Frage aufwirft: Wer kann überhaupt noch ein Interesse daran haben, dass positiv getestet wird? Die Kollegen in den Laboratorien? Und in der Nada sitzen lauter Vertreter aus den Verbänden und der Sportpolitik. Die etwa?
Sie sprechen von einem Grundproblem?
Absolut. Die Interessenskonflikte im Antidoping-Bereich müssten mal sauber aufgearbeitet werden. Ich sehe als Sportmediziner bei mir in der Ambulanz Nachwuchsathleten und ich kann mir ausmalen, wie viele von denen später an der Nadel hängen. Die im Prinzip Drogen nehmen wie ein Junkie am Bahnhof. Ich habe mit einem Kollegen eine Erhebung im Pool der Nachwuchssportler gemacht: Sieben Prozent der durchschnittlich 16-Jährigen gaben an, dass sie bereits Dopingmittel nehmen. Und da reagiert in Deutschland aus dem Sportbereich niemand drauf.
Ist ein großer Doping-Skandal im deutschen Sport nur noch eine Frage der Zeit?
Wenn die Verfahren ernsthaft umgesetzt würden, würde ich sagen: Es ist nur eine Frage der Zeit.
Welche Sportarten könnten betroffen sein?
Gerade in der Leichtathletik verabschiedet sich die absolute Spitze der Athleten deutlich von der gesamten vorderen Riege. Wir haben Leute, die in ihrer Leistung absolute Ausreißer hinlegen. Da muss man sich fragen: Ist das eine gesunde Entwicklung der Sportart? Ist das begründbar durch gezielten Einsatz von Trainingsressourcen oder legalem Know-How? Oder wird hier manipuliert?
Welche Disziplinen meinen Sie?
Das will ich gar nicht konkretisieren. Ich würde das aber auf die Bereiche beziehen, in denen wir international leider an vorderster Front mitmarschieren.
Die deutschen Werfer sind sehr stark.
Die sind sehr stark, richtig. Ich will das aber keinesfalls nur auf diesen Bereich ausdehnen. Auch Individuen anderer Disziplinen zeigen Leistungen, die man ihnen vorher nicht zugetraut hatte. Doch diese Spekulationen bringen uns nicht weiter. Das Entscheidende ist, dass durch ein effektives Testsystem alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden.