Schwergewichts-Weltmeister Vitali Klitschko spricht im Interview mit Morgenpost Online über seine Rollen als Boxer, Politiker und Familienmensch.

Vitali Klitschko , 40, boxt am Samstag in der Münchener Olympiahalle gegen den schlagfertigen Briten Dereck Chisor a. Trainer Fritz Sdunek, 64, der Vitali seit dessen Wechsel ins Profilager im Herbst 1996 betreut, zeigt sich zufrieden. „Vitali ist super in Schuss“, stellt er fest, „es ist unglaublich, mit welchem Ehrgeiz er es in seinem Alter immer wieder schafft, sich in Topform zu bringen.“

Morgenpost Online: Herr Klitschko, sind Sie vom Ehrgeiz zerfressen?

Vitali Klitschko (überlegt lange): Nein, ganz sicher nicht. Ehrgeiz ist zwar sehr wichtig zur Verwirklichung von Zielen, ist eine zusätzliche Turbine im Motor, aber das Leben darf davon nicht dominiert werden. Allzu großer Ehrgeiz kann Nachteile bringen. Das ist wie mit Schlangengift: Einerseits ist es eine wertvolle Arznei, andererseits besitzt es tödliche Wirkung.

Morgenpost Online: Wissen Sie, wie sich Ehrgeiz definiert?

Klitschko: Für mich bedeutet es, besser zu werden als der andere.

Morgenpost Online: Laut Wikipedia versteht man unter Ehrgeiz die Gier einer Person nach Ehre, oft verbunden mit dem Streben nach Macht und Ruhm.

Klitschko: Ehre ist etwas sehr Wichtiges, hat für mich eine riesengroße Bedeutung. Doch ich bin weder machtgierig noch ruhmsüchtig. Beides ist für mich bedeutungslos. Ruhm erntest du als Ergebnis deiner Arbeit . Als bester Boxer der Welt bekommst du automatisch Ruhm. Doch deswegen wollte ich nie Weltmeister werden. Das Gleiche gilt für Macht.

Morgenpost Online: Politiker wie Sie sehnen sich doch normalerweise regelrecht nach Macht.

Klitschko: Warum?

Morgenpost Online: Um in ihrem Land etwas zu verändern, so wie Sie es auf die Fahne Ihrer Partei „Ukrainische Demokratische Allianz für Reformen“ (UDAR) geschrieben haben.

Klitschko: Wenn du deine Vorhaben und Pläne realisierst, bekommst du zwangsläufig Macht. Ich wollte nie Macht besitzen, um damit meine politischen Visionen zu verwirklichen. Mein Selbstverständnis sagt mir: Egal, welche Position du innehast – wenn du nicht in der Lage bist, sie glaubhaft und ehrlich auszufüllen, hilft dir auch keine Macht.

Morgenpost Online: Ihre Haltung ist eher untypisch für einen Politiker.

Klitschko: Mag sein. Ich kenne zahllose Politiker, deren Ego erst dann befriedigt ist, wenn sie im Besitz der angestrebten Macht sind. Viele sind von Macht abhängig wie von Drogen . Ich habe noch nie gespürt, von einem Machtbedürfnis infiziert zu sein. Wenn ich mit meiner Partei um Macht kämpfe, bedeutet das für mich, um Reformen zu kämpfen.

Morgenpost Online: Wohin soll der Ehrgeiz Sie in der Politik führen?

Klitschko: Die Ukraine besitzt zwar seit 20 Jahren ihre Unabhängigkeit, doch wir, das Volk, können in keiner Weise stolz darauf sein, was seitdem politisch, wirtschaftlich und wissenschaftlich erreicht wurde. Die Polen und Tschechen, Slowaken, Esten, Letten oder Litauer haben ihre Länder reformiert. Heute gehören sie zur Europäischen Union und machen riesige Entwicklungsfortschritte. Die Machthaber bei uns proklamieren zwar die europäische Integration und Demokratie. Doch das, was sie sagen und tun, verhält sich wie Feuer und Wasser.

Morgenpost Online: Wohin streben Sie? Wollen Sie nach 2006 und 2008 im Mai ein drittes Mal für das Bürgermeisteramt in Kiew kandidieren?

Klitschko: Ich habe schon das Gefühl, es diesmal schaffen zu können. Kiew ist das Herz der Ukraine, und wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir mit dem Herzen anfangen. Allerdings kann man nicht mit einer lokalen Betäubung eine landesweite Epidemie bekämpfen. Wenn man für eine gesellschaftliche Modernisierung im großen Stil kämpft, muss man den ganzen Körper behandeln. Deshalb nimmt unsere Partei auch an den Parlamentswahlen im Oktober teil. Wir wollen nicht nur Politik in bestimmten Städten machen, sondern in der ganzen Ukraine. Die Wahl zum Bürgermeister ist dabei nur ein kleiner Kampfplatz.

Morgenpost Online: Wollen Sie Ihren autoritären Staatschef Viktor Janukowitsch als Präsident ablösen?

Klitschko: Die Wahl ist erst 2015. Das ist noch zu weit weg und deshalb auch zu früh, um darüber zu sprechen. Erst einmal muss unsere Partei die breite Unterstützung des Volkes haben.

Morgenpost Online: Immerhin zählt die UDAR schon über 10.000 Mitglieder.

Klitschko: Seit den Kommunalwahlen im Oktober 2010 sind wir auch in 15 der 24 Regionalparlamente mit Abgeordneten vertreten. Derzeit liegt die UDAR unter den etablierten Parteien an vierter Stelle. Wir befinden uns auf einem sehr guten Weg.

Morgenpost Online: Vollzieht sich für Sie als ungeduldigen Menschen die Entwicklung nicht zu langsam?

Klitschko: Klar, würde ich am liebsten von heute auf morgen alles verändern. Doch die Lebensgesetze funktionieren anders. Alles braucht Zeit. Bis ich Weltmeister wurde, sind 15 Jahre vergangen. Als Vierzigjähriger bin ich für die Politik noch jung genug, um etwas bewegen zu können.

Morgenpost Online: Wer kommt Ihrem Idealbild als Politiker am nächsten?

Klitschko: Vollkommen ist keiner, jeder besitzt Vor- und Nachteile. Sehr sympathisch finde ich Bill Clinton. Von ihm habe ich viel lernen können. Aber auch Angela Merkel, Joschka Fischer oder Nelson Mandela sind für mich große Politiker. Ich möchte in der Geschichte der Ukraine eine wichtige Rolle spielen, denn ich liebe mein Land.

Morgenpost Online: Konkreter bitte.

Klitschko: Irgendwann soll eine Straße nach Vitali Klitschko benannt werden, aber nicht wegen meiner sportlichen Erfolge.

Morgenpost Online: Sondern?

Klitschko: Weil ich etwas Besonderes geleistet habe, was noch keiner in der Ukraine geschafft hat.

Morgenpost Online: Und das wäre?

Klitschko: Ich bin davon überzeugt, aus dem riesigen Potenzial, das die Ukraine besitzt, ein modernes europäisches Land machen zu können. Dafür braucht man viel Mut und einen großen Willen.

Morgenpost Online: Und sehr viel Ehrgeiz. Wie weit würden Sie damit gehen?

Klitschko: Ehrgeiz ist etwas Grenzenloses. Ehrgeiz ist besser als Wissen, denn das ist begrenzt. Ganz nach oben kommt nur, wer sich ehrgeizige Ziele setzt. Ich kenne keinen erfolgreichen Menschen, der nicht ehrgeizig ist. Ohne diesen Wesenszug wäre mein Vater beispielsweise nie General der Luftwaffe geworden.

Morgenpost Online: Sind Sie ehrgeiziger als Ihr Bruder?

Klitschko: Ich denke nicht. Denn ohne den richtigen Ehrgeiz hätte auch Wladimir niemals diesen Erfolg gehabt.

Morgenpost Online: Mit dem Ehrgeiz kann man es aber auch übertreiben, wie Sie anmerkten.

Klitschko: Man braucht schon viel Fingerspitzengefühl, um nicht ins Verderben zu rennen. Wichtig ist aber auch, auf Ratschläge vertrauter Menschen zu hören.

Morgenpost Online: Tun Sie das?

Klitschko: Ich erinnere mich noch, als ich mir kurz vor der Titelverteidigung gegen Hasim Rahman einen Kreuzbandriss im rechten Knie zuzog. Ich wollte unbedingt boxen, war riesig motiviert und in Spitzenform. Doch mein Trainer Fritz Sdunek sagte zu mir: „Wenn du in den Ring gehst, werde ich nicht dabei sein.“ Schweren Herzens hörte ich auf ihn. Heute bin ich ihm dankbar dafür.

Morgenpost Online: Welche Ziele haben Sie als Boxer?

Klitschko: Ich habe Träume. Da ich abergläubisch bin, möchte ich darüber nicht reden. Den Rekord von George Foreman werde ich sicher nicht brechen.

Morgenpost Online: Er wurde mit 45 Jahren noch einmal Weltmeister. Würden Sie als Bürgermeister weiterboxen?

Klitschko: Was denken Sie?

Morgenpost Online: Ihnen ist alles zuzutrauen.

Klitschko: Ich glaube nicht. Es ist schon jetzt zeitlich oft schwierig, beides unter einen Hut zu bekommen.

Morgenpost Online: Und dann wartet daheim noch eine Familie mit drei Kindern.

Klitschko: Ich bin ein liebevoller, aber auch ein schlechter Vater, da ich viel zu wenig Zeit mit den Kindern verbringe. Meine Frau sagt häufig: Du findest Zeit für Kinder in Namibia, Brasilien, Rumänien, doch wann nimmst du dir Zeit für deine eigenen? Wladimir und ich unterstützen viele Kinderprojekte. Meiner Frau bin ich unendlich dankbar, dass sie sich so liebevoll um unsere Kinder kümmert.