Berlin. Deutsche Leichtathleten schwärmen von Berlin, üben aber Kritik am Fernbleiben der Politiker.
Es waren emotionale Bilder, die aus dem Olympiastadion hinaus in die Welt gingen. „Wir haben im Stadion genau das bekommen, was wir uns gewünscht haben – das Gänsehaut-Feeling“, sagte Jürgen Kessing, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV). Dafür sorgten die Athleten und die halbe Million Zuschauer, die dem Spektakel im Stadion (360.000 bedeuten EM-Rekord) und auf dem Breitscheidplatz eine würdige Kulisse boten.
Und das Ergebnis kann sich aus deutscher Sicht sehen lassen. Mit 19 Medaillen drei mehr gesammelt als 2016 in Amsterdam, sechs schillerten golden. Dass dies das Ziel des DLV war, sagte vorher natürlich keiner. „Wir wollten keinen Druck aufbauen. Wenn man dann immer mit Zahlen konfrontiert wird, ist das nicht hilfreich“, sagte Idriss Gonschinska, Leitender Direktor Sport.
Der Plan ging auf
Das deutsche Team jubelte im Werfen, Springen und Laufen. „Die Vielfalt dieses Sports haben wir in dieser Woche gesehen, und das ist bei vielen Menschen angekommen“, sagte Kessing.
Nur bei einer offenbar nicht. Bundeskanzlerin Angela Merkel besuchte die Wettkämpfe vor ihrer Haustür nicht. Auch andere Politiker wie Sportminister Horst Seehofer und den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der sogar die Schirmherrschaft der EM innehatte, suchte man unter den Zuschauern vergeblich.
Schon am Sonnabend hatte Kugel-Vizeeuropameisterin Christina Schwanitz die Abwesenheit der Bundeskanzlerin kritisiert. „Nach Rio de Janeiro kann sie fliegen und ist mehrere Tage nicht auf Arbeit. Im Fußball geht’s“, sagte Schwanitz im „Aktuellen Sportstudio“. Auch Diskuswerferin Shanice Craft hätte sich über diese „schöne Wertschätzung“ gefreut. „Aber im Endeffekt waren so viele Menschen im Stadion, die wirklich sehen wollten, was wir machen, und das ist viel mehr wert“, sagte sie.
Gute Quote im TV
Nicht nur die Menschen im Stadion wollten sehen, was sich in Berlin tut. „Die Zuschauerquoten, die Marktanteile im TV sprechen dafür, dass die Leichtathletik in dieser Woche einen neuen Schub bekommen hat“, sagte Kessing. Verantwortlich dafür waren vor allem die Erfolge der deutschen Athleten. Denn das Prinzip des Zuschauerinteresses ist klar: keine deutschen Medaillen, keine guten Einschaltquoten. Das weiß auch der DLV. Und investierte viel, um seine Athleten bestmöglich vorzubereiten. „Wir haben bewusst auch einige unpopuläre Entscheidungen getroffen und uns absolut auf die Tage hier fokussiert. Vieles davon ist aufgegangen. Natürlich gab es auch die eine oder andere Entwicklung, die wir uns anders vorgestellt hatten“, sagte Gonschinska.
Ein Beispiel sind die deutschen Sprinter. Sie liefen wie schon in den Jahren zuvor nur hinterher. Mit Ausnahme von Vizeeuropameisterin Lückenkemper gingen alle leer aus. Nur wenn auch noch Hürden zwischen den Athleten und der Ziellinie standen, sprinteten die Deutschen mit um die Medaillen. So wie Pamela Dutkiewicz und Cindy Roleder.
Roleder freute sich dabei sogar über eine Saisonbestleistung und zeigte genau wie einige andere Medaillengewinner, dass ein anderer Plan des DLV aufgegangen war. „Unser Motto war, dass die Athleten performen können, wenn es darauf ankommt“, sagte Gonschinska. Schon im Frühjahr wurden einige Sportler nominiert, wenn sie mit entsprechenden Leistungen überzeugten. So lief es nicht bei allen auf einen vermeintlich kräfteraubenden Kampf um die Normen bei den Deutschen Meisterschaften hinaus.
Viele Medaillen wurden dank Saisonbestleistungen gewonnen
Speer-Europameisterin Christin Hussong und Kristin Gierisch, die Vizeeuropameisterin im Dreisprung, waren sogar so gut wie nie zuvor in ihrer Karriere. Auch Zehnkämpfer Niklas Kaul (20) überzeugte mit persönlicher Bestmarke und ist einer von vielen jungen Athleten, die Mut für Olympia 2020 in Tokio machen. Auch die Talente Lisa-Marie Kwayie (21) aus Berlin und Kevin Kranz (20) lassen hoffen. Zudem wird bis auf Diskuswerfer Robert Harting kaum einer aus dem aktuellen DLV-Team seine Karriere beenden. So werden sie sich nun mit der Zwischenstation der WM in Katar im nächsten Jahr auf Tokio 2020 vorbereiten. Damit die Athleten auch dort solch emotionale Bilder wie in Berlin liefern können.