Pauline: Sind Sie sich bewusst darüber, wie sehr die Schulreform in unseren Alltag eingegriffen hat? Stichwort: Abschaffung des 13. Schuljahrs an Gymnasien und doppelter Abiturjahrgang.
Jürgen Zöllner: Ja, das ist mir bewusst. Beleg dafür ist die Tatsache, dass ich in meiner früheren Verantwortung in Rheinland-Pfalz der einzige Bildungsminister in dieser Republik gewesen bin, der diese Verkürzung nicht umgesetzt hat. Mir war von vornherein klar, dass die unausweichliche Verdichtung, wenn man den Stoff von 13 Schuljahren in 12 Schuljahren vermittelt, zu einem veränderten Schulleben führen wird. Und dass es schwieriger werden wird, zum Beispiel zusätzliche Aktivitäten neben der Schule zu machen. Dass es auch schwieriger wird, Schülerinnen und Schüler, die nicht so lernstark sind, zu fördern. Die Entscheidung zur Verkürzung ist in Berlin schon vor etlichen Jahren getroffen worden - also nicht in dieser Legislaturperiode. Man muss sehen, was man macht, wenn sich jetzt konkrete Probleme ergeben. Das war mit ein Grund, warum ich die Schulstrukturreform mit der Integrierten Sekundarschule realisiert habe, um den Schülern, die im alten Lernrhythmus lernen wollen, die Möglichkeit zu geben, weiter nach 13 Jahren nach der alten Stundentafel das Abitur zu machen. Und dieses übrigens auch als Ganztagsangebot. Ich habe zudem gesagt, dass man in einem ersten Schritt ein Gymnasium pro Bezirk als Ganztagsschule organisieren kann.
Pauline: Inwieweit wurden die Schüler in die Entscheidungen einbezogen bzw. wurden sie überhaupt einbezogen?
Zöllner: Ich gehe davon aus, dass die Eltern letzten Endes direkt oder indirekt mit entschieden haben. Es handelte sich um eine politische Entscheidung durch die Damen und Herren, die als Abgeordnete gewählt waren. Soweit ich weiß, war dies damals in Berlin eine unumstrittene Entscheidung, die einvernehmlich über alle Parteien hinweg getroffen wurde. Das Einbeziehen von Schülerinnen und Schülern ist bei solch einer Grundsatzentscheidung wohl nicht möglich.
Pauline: Wieso wurde das 13. Schuljahr abgeschafft? War das so zwingend nötig?
Zöllner: Die Argumentation der Befürworter ist aus meiner Sicht nachvollziehbar. Das Abitur soll zur Studierfähigkeit führen; in den meisten anderen Ländern erfolgt dies schneller - also in kürzerer Zeit. Da diejenigen, die im Ausland anfangen zu studieren, alle spürbar jünger sind, gibt es keinen Zweifel, dass für einen großen Teil der Schülerinnen und Schüler dieses Ziel auch in zwölf Jahren erreicht werden kann. Und man sollte ja junge Menschen nicht länger in die Schule zwingen als nötig. Darum macht ein solches Angebot Sinn.
Pauline: Aber das ist ja nur ein Jahr. Wieso konnte man nicht alles so belassen?
Zöllner: Das kommt immer drauf an. Ein Jahr, das letzten Endes nicht optimal genutzt wird im Laufe eines Lebens, das ist sehr viel, egal wie alt man wird. Wenn es also möglich ist, in der Ausbildung ein Jahr einzusparen, ist dieses vernünftig. Denn Leben bedeutet auch, eine aktive Rolle in der Gesellschaft zu spielen und für sich selbstständig sorgen zu können. Ich gehe davon aus, dass das auch für Euch eine große Rolle spielt.
Pauline: Wieso ist das eine Jahr überflüssig? In der bisherigen 11. Klasse haben viele ein Auslandsjahr gemacht. Unter den neuen Bedingungen müsste man jetzt ja eine Klasse in Deutschland wiederholen.
Zöllner: Es wird ja niemand gehindert, ein Jahr ins Ausland zu gehen. Dann hat er faktisch 13 Jahre Schulzeit.
Pauline: Meiner Meinung nach ist auch die Kindheit ein ganz wichtiger Abschnitt und jetzt wären wir bei den Folgen der Abschaffung des 13. Schuljahres. Man hat das Gefühl, dass man beraubt wird, denn wir haben nur noch sehr wenig Freizeit. Was meinen Sie, welche Aktivitäten ein Kind neben der Schule noch machen sollte und welche es überhaupt noch machen kann?
Zöllner: Auch das sehe ich nicht so. Das würde ja bedeuten, dass die Zeit, die Ihr in der Schule zubringt, Euch von Eurer Kindheit genommen wird. Das wäre schlimm. Es gab auch in meiner Schulzeit Unterrichtsstunden, die fand ich fürchterlich. Aber auch die schönsten Erlebnisse hatte ich in meiner Schule und Schulzeit. Wir müssen daran arbeiten, dass Euch die Zeit, die Ihr in der Schule verbringt, Spaß macht, selbst wenn Ihr mal was lernen müsst. Ist ja auch schön, wenn man feststellt, man hat was gelernt. So wie ich Euch einschätze, lernt Ihr doch auch, weil es Euch auch Spaß macht.
Pauline: Das ist natürlich so, aber trotzdem: Man hat jetzt viel weniger Zeit. Das heißt, man hat auch weniger Zeit für Sachen, die einen besonders interessieren. Wir hatten in letzter Zeit etwas in Mathe, das wollte ich sehr gut machen, hatte aber nicht wirklich Zeit, das zu tun. Dadurch, dass alles so gepresst ist, macht Lernen dann einfach keinen Spaß mehr.
Zöllner: Also aus meiner Erfahrung sage ich: Egal, wie viel Unterricht man hat, dieses Problem werdet Ihr immer haben, auch wenn der Unterricht um die Hälfte gekürzt wird. Es wird Unterricht geben, der Euch überhaupt keinen Spaß macht. Die Frage ist: Gibt es noch genügend Freiraum, dass Ihr auch Sachen machen könnt, die mit Schule nichts zu tun haben? Die Ihr Euch völlig frei wählt? Ich meine, dass für ein normal begabtes Mädchen oder einen Jungen Zeit übrig bleibt, das zu machen, was ihm wirklich Spaß bereitet.
Pauline: Wir haben noch eine ganz lustige Frage: Sehen sie einen Zusammenhang zwischen Übergewicht und den vollen Stundenplänen? Wir haben ja 34 Stunden pro Woche Schule.
Zöllner: Da sehe ich keinen Zusammenhang. Wenn Ihr Euch auf das Schulessen bezieht, mag das im Einzelfall unterschiedlich sein, aber bestimmte Mindeststandards muss es erfüllen. Ich führe das tendenziell höhere Körpergewicht von Jugendlichen auf andere Sachen zurück. Auf eine für mich nicht nachvollziehbare Vorliebe für "Fish and Chips", für Hamburger - und auf die Tatsache, dass man verlernt hat, Treppen zu gehen und überall mit dem Aufzug fährt und nicht auf die Idee kommt, mit dem Fahrrad oder zu Fuß in die Schule zu fahren, sondern sich von den Eltern hinfahren lässt.
Pauline: Wir haben die Sorge, dass wir im Nachteil sind, d. h. dass Fördergelder zurzeit eher in die Sekundarschulen fließen, dass dort die Klassen kleiner werden und die Schüler mehr Zeit haben. Wir haben Angst, dass die Schüler an den Gymnasien zu kurz kommen. Ist das berechtigt?
Zöllner: Ich wundere mich, wie Ihr auf eine solche Idee kommt. Ich hab mich nie als Schüler um die Ausstattung meiner Schule mit Lehrern gekümmert. Zweitens ist diese Sorge völlig unberechtigt. Das Gymnasium hat im Zusammenhang mit der Strukturreform keine einzige Stelle verloren im Zusammenhang mit dieser Strukturreform. Das heißt, die Ausstattung mit Lehrern im Gymnasium ist völlig unverändert. Ganz im Gegenteil. Ich stelle zusätzliche Personalressourcen zur Verfügung, damit im ersten Schritt ein Gymnasium pro Bezirk zur Ganztagsschule werden kann, was ja an diesem Gymnasium auch andere pädagogische Möglichkeiten eröffnet. Und die unbestritten bessere Ausstattung der Sekundarschulen kommt dadurch zustande, dass die Integrierten Sekundarschulen eine sehr viel stärker heterogene Schülerschaft haben, sie also unterschiedliche Begabungen, unterschiedliche Motivationen, unterschiedliche Voraussetzungen von Schülerinnen und Schülern haben.
Pauline: Und haben wir letztendlich einen Vorteil gegenüber denen, die ihr Abi an den Sekundarschulen machen?
Zöllner: Ich hoffe nicht. So wie ich nicht hoffe, dass die, die an der Sekundarschule das Abi machen, einen Vorteil haben. Es geht nicht um Vorteile oder Nachteile. Es geht um unterschiedliche Wege. Es geht um ein Angebot, dass das Land Berlin macht. Man kann es so machen und man kann es so machen, niemand wird zu einem bestimmten Weg gezwungen. Aber die Messlatte muss jeweils identisch sein.
Pauline: Würden Sie eigentlich Ihre Kinder oder Ihre Enkelkinder in Kreuzberg zur Schule schicken?
Zöllner: Ich kann sagen, was ich gemacht habe. Ich habe meinen Kindern überlassen, in welche Schulen sie gegangen sind. Das war damals in Hessen, hieß kooperative Gesamtschule und das war in Wirklichkeit das klassische gegliederte Schulsystem - zusammengelegt in einer Schule. Der Sohn hat gesagt, er will auf eine integrierte Gesamtschule, und die Tochter wollte auf das Gymnasium. Ich habe mir gedacht, es gibt in jeder Schule besonders gute Lehrer und weniger gute Lehrer und die können Deine Kinder in jeder Schule treffen. Für mich war das nie ein Problem der Schulart.