Erst der leise Schall einer Gitarre, die Melodie vom Schlagzeug untermalt, bis nach einer gefühlten Ewigkeit eine zarte Stimme leidenschaftlich traurig „Eure Liebe tötet mich“ ins Mikro säuselt und sich der gleichnamige Song zu einem wahnhaften Inferno epischen Ausmaßes steigert. Die Rede ist von Tocotronic, genauer dem ersten Lied ihres neunten Studioalbums “Schall & Wahn“, mit dem die vom „Rolling Stone“ als „Deutschlands beste Band“ titulierten Diskursrocker am 22. Januar ihre „bisher heftigste Propagierung von Zwischenstufen, Ich-Auflösung und Vielheit“ präsentieren.

Fast drei Jahre mussten ihre Fans auf die neue Platte warten. So viel sei vorab verraten: Das Warten hat sich gelohnt! Nach 17 Jahren Bandgeschichte beeindruckt das Quartett nach wie vor durch Stilsicherheit und Extravaganz.

Schon zu ihren Studienzeiten verblüffte die Band um Frontmann Dirk von Lowtzow - damals noch als Trio ohne Gitarrist Rick McPhail - mit ihrem dilettantischen Charme, der sich in plakativen deutschsprachigen Parolen a la „Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst“ sowie böse verzerrten Gitarren manifestierte. So wurde sie schon bald ungewollt zum Identifikationssymbol für resignierte Jugendliche aus gutbürgerlichem Elternhaus, die sich bei ihrer Suche nach einem intellektuell fundierten Widerstand gegen das Spießbürgertum in Tocotronics Texten verstanden fühlten.

Das Dagegensein und die Resignation wichen ab K.O.O.K. (1999) einer Phase kryptischer Texte und komplexer Melodien. Aber auch diese Zeiten, in denen die Band die Leiter in ihr eigenes romantisches, verworrenes Märchenland erklomm, sind passé.

Ob dieser Abschied als qualitative Steigerung zu werten ist, sei dahingestellt. Eines ist doch sicher: Heute zeigen sich Tocotronic diverser und abwechslungsreicher denn je!

Wo Kritiker dem weißen Album (2002), das schlicht den Namen der Band trägt, und dessen Nachfolger "Pure Vernunft darf niemals siegen" (2005) zu viel Homogenität sowie zwar eindrucksvolle, aber unzugängliche Texte vorwarfen, besticht das Album mit dem Shakespeare-Titel, den auch schon ein Roman von William Faulkner trug, durch die Perfektion des schillernden Sounds vom Vorgängeralbum Kapitulation(2007) und außergewöhnliche Vielfalt in Musik und Text.

Die Bandbreite reicht von dem punkigen Protestsong „Macht es nicht selbst“, der mit dröhnenden Gitarren auf humorvolle Weise die Melodie des Klassikers „Oh when the saints go marching in“ wiederbelebt und resolut gegen die „Do it yourself“-Bewegung und den aus ihr resultierenden sozialen Zwang, auf Biegen und Brechen kreativ sein zu müssen, protestiert, bis hin zum selbstzerstörerischen Walzer „Das Blut an meinen Händen“. Mit ihm betreten die „Tocotronen“, begleitet von einem imposanten Streicherarrangement, das auch die in klassischer Singer-Songwriter-Manier vorgetragene Akustik-Ballade „Im Zweifel für den Zweifel“ über Jugendlichkeit und Midlife-Crisis verziert, absolutes Neuland.

Auf inhaltlicher Ebene stellt die in den 12 Songs kreierte brutal-paradoxe Welt ein weiteres Novum dar. Im Gegensatz zur ebenfalls von Moses Schneider in den Berliner Universal-Studios produzierten Kapitulation, die noch euphorisch die totale Selbstaufgabe feierte, beherrschen nun Kontraste, Zweifel und mythische Wesen wie der alles verschlingende Moloch und der Phoenix, seit der Antike Symbol für Unsterblichkeit, diese bizarre Welt voller „Perversion und Glück“, Tyrannei und Folter, ewigem Leben und Tod.

Eben diese Vielheit und das Pendeln „zwischen den Polen“ machen die Faszination von Schall & Wahn aus. Selbiges fordert auch die erste tocotronische Polka „Bitte oszillieren Sie“ vom Hörer. Er solle nichts festlegen und „zu dieser Zwittermelodie“ oszillieren, heißt es da. Denn um die Bandbreite eines solch opulenten Gesamtkunstwerks, das bewusst die Grenzen der Rockmusik sprengt, aufnehmen zu können, muss die erste Bedingung lauten: Erwarten Sie stets das Unerwartete!

Wer sich darauf nicht einlassen kann oder will, sondern stereotypen, deutschen Softrock präferiert, darf gern weiterhin Sportfreunde Stiller hören.

Drum macht Euch frei, taucht ein in die tocotronische Welt der Gegensätze und vor allem: Genießt den Schall! Der Wahn packt Euch dann ganz von alleine.