Zeitgeschichte

Vom Plattensee aus ging es in den Westen

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Marko Martin

Der Plattensee war bis 1989 ein beliebtes deutsch-deutsches Sommerziel. Hier lernten sich Ost- und Westdeutsche kennen oder sahen sich als Familien heimlich einmal im Jahr wieder. Als Ungarn vor 20 Jahren seine Grenze zu Österreich für flüchtende DDR-Bürger öffnete, wurde alles anders.

Warum sollte man es verschämt verschweigen: Ungarn ist ein wenig aus der Mode gekommen. Städtereisen ins nach wie vor leuchtende, architektonisch anheimelnde Budapest – gewiss. Aber sonst? Der Plattensee, die Badewanne Mitteleuropas, war bis 1989 ein beliebtes deutsch-deutsches Sommerziel. Es war damals geografisch und politisch günstig, sich in Ungarn zu treffen. Hier lernten sich Ost- und Westdeutsche kennen oder sahen sich als Familien heimlich einmal im Jahr wieder. Mit dem Unterschied, dass die damals hier in Massen billig urlaubenden Westdeutschen ihn Plattensee nannten und die Ostdeutschen lieber Balaton sagten. Bereits vor 1989 war der See ein Ort der deutsch-deutschen Einheit geworden.

Heute ist die Zahl der deutschen Urlauber am Plattensee rückläufig. Der See mit seinem flachen Südufer und selbst spätsommerlichen Badetemperaturen von 28 Grad gilt inzwischen als Billigziel. Tatsächlich wird der See vor allem von feierwütigen Schulklassen und älteren Kururlaubern besucht, während die weiß gestrichenen Csardas-Restaurants mit ihren guten Weinen, deftigen Paprika-Gulasch-Gerichten nicht nur wegen ihrer „Partykeller“ einen Hauch von 80er-Jahre verströmen. Aber ist Letzteres tatsächlich so schlecht?

Rückblende in eine Zeit, als die Fischerbastei hoch über der Donau in Budapest ebenso wie die Weinberge rund um den Balaton das Sehnsuchtsziel Tausender Ostdeutscher waren, ein erster Hauch von (Halb-)Westen, ehe im Spätsommer 1989 ausgerechnet in Ungarn die Weltgeschichte Bocksprünge vollführte. Am 19. August war es zur berühmten Massenflucht auf der Wiese in Sopron gekommen – 600 DDR-Bürger, die unter den Augen ungarischer Grenzer hinüber nach Österreich flüchteten.

In der Nacht zum 11. September 1989 öffnete dann Ungarns reformkommunistische Regierung ganz offiziell die Grenze für all jene, die dem SED-Staat den Rücken gekehrt und bis dahin bange Wochen in der bundesdeutschen Botschaft in Budapest, auf dem Gelände des Malteser-Hilfsdienstes oder auf den Campingplätzen rund um den Plattensee verbracht hatten.

Und heute, zwanzig Jahre danach? Ruhig ist es, sehr ruhig. Sonnensprenkel und sanftes Rauschen der Baumkronen im stillen Budapester Stadtteil Zugliget, wo damals Trabant an Trabant parkte, die Stasi observierte und sich das Team um Pater Imre Kozma um Tausende Flüchtlinge kümmerte. Heute steht auf dem überschaubaren Areal des Malteser-Hilfsdienstes ein zum Museumsstück gewordener Trabant, während der berühmt gewordene Pater Kozma, inzwischen weißhaarig und beinahe siebzig, nicht ohne Stolz diesen bedenkenswerten Satz sagt: „Zeigen Sie mir ein Beispiel in der Geschichte, wo ein kleines Volk einem größeren, wohlhabenderen geholfen hat – und dies ohne Gegenleistung.“

Diese Worte im Ohr, fährt man von nun an anders durch das Land. Vermisst am Strand des Plattensees dann auch kein Côte-d'Azur-Flair, sondern liest sich stattdessen fest in Ingo Schulzes preisgekröntem Flucht-Roman „Adam und Evelyn“, der in jenem Sommer vor 20 Jahren hier spielt. Oder man fährt noch weiter westlich, hinüber nach Sopron, zur legendären Fluchtwiese, auf der inzwischen Schautafeln an die damaligen Ereignisse erinnern. Dazu ein von beeindruckten japanischen Reisenden gespendetes Holzhäuschen, das zu spiritueller Einkehr lädt.

Auch hier ist es ruhig, ganz ruhig. Soprons Hauptattraktion nämlich besteht mittlerweile aus seinem großen Prozentsatz ortsansässiger Zahnärzte, die noch immer ungleich preiswerter behandeln als ihre Kollegen in Deutschland oder Österreich. Profanisierung einer Gegend, über die einst Helmut Kohl sagte, genau hier wäre der erste Stein aus der Berliner Mauer gebrochen worden? Man kann es auch positiv sehen, denn der Ort, der bis 1989 durch den Eisernen Vorhang vom Westen abgeschnitten war, ist zurückgekehrt an seinen angestammten Platz in Mitteleuropa – schön restaurierte Barockgebäude im Stadtinnern legen davon ebenso Zeugnis ab wie ein Mittag- oder Abendessen im „Hotel Pannónia“, dem ersten Haus am Platz, wo man sich wie in guten alten k. u. k. Zeiten wähnt. Gleichzeitig jedoch steht im Foyer ein Stück des ehemaligen Grenzzauns samt Stacheldraht – Memento einer Vergangenheit, die glücklicherweise vergangen, doch nicht vergessen ist.

Und dann jene riesigen Vogelschwärme im ungarisch-österreichischen Grenzgebiet am Neusiedler See, am Fertö-tó, wie er in Ungarn genannt wird. Früher war hier, unmittelbar am Grenzzaun, mitunter geschossen worden, seit 2001 ist die gesamte Region von der Unesco als Weltkulturerbe anerkannt. Ausflugsschiffe fahren von einem Ufer zum anderen.

Großen Prunk und Pathos wird man dagegen hier kaum finden – obwohl Deutschland den Ungarn so immens viel zu verdanken hat.

Doch wie sagte Miklós Németh, heute Pensionär am Plattensee und damals jener ungarische Ministerpräsident, der am 10./11. September gegen alle Widerstände aus Ost-Berlin die Grenze hatte öffnen lassen: „Wir haben getan, was getan werden musste. Für die Ostdeutschen und für unsere Würde. Well – that's it.“

Anreise: Mit Malev von Berlin nach Budapest ( www.malev.com ), weiter mit dem Mietwagen.

Unterkunft: „Lanchid Hotel“, Budapest, DZ ab 160 Euro, www.lanchid19hotel.hu , „Hotel Spa Heviz“ am Plattensee, DZ ab 130 Euro, www.spaheviz.hu , „Hotel Pannónia Med“, Sopron, DZ ab 180 Euro, www.pannoniahotel.com

Literaturtipp: Ingo Schulze: „Adam und Evelyn“, Berlin Verlag, 18 Euro.

Auskunft: Ungarisches Tourismusamt, Berlin, Telefon 030/2431460, www.ungarn-tourismus.de