Leipzig – einst dem Verfall preisgegeben
So muss es wohl auch damals gewesen sein: Spätsommerlich schwül und still, ein Hauch von „vorbei“ in den Straßen Leipzigs. Doch wenn heute die Trottoirs am Ring leer sind, dann vor allem deshalb, weil Leipzigs Bewohner ausgeflogen sind, vermutlich zum visum- und genehmigungsfreien Urlaub in die Länder des Südens, aus denen sie jedoch garantiert zurückkommen werden – anders als 1989. Da waren auch viele weg, aber kaum einer wollte zurück.
„Im Sommer vor 20 Jahren herrschte hier gespenstische Stille“, erinnert sich Reiseführerin Sabine Gugutschkow. „Tausende waren via Prag und Plattensee in den Westen unterwegs, hinter sich ein zunehmend sinnlos gewordenes Leben unter verlogenen Parteitransparenten und in maroden Wohnungen, die diesen Namen oft gar nicht mehr verdienten.“
Heute dagegen durch Leipzig zu schlendern – vom großartig im Gründerzeitstil restaurierten Waldstraßenviertel hinüber in die quirlige Innenstadt – heißt vor allem eines, und dies ohne alle pathetische Ironie: unterwegs in blühenden Landschaften, tatsächlich.
Wie begrünt die Balkone und freundlich plätschernd der einstmals so stinkend verseuchte Elster-Pleiße-Mühlengraben, wie abwechslungsreich die Cafés und Restaurants, wie reichhaltig das Angebot an Konzerten, Theateraufführungen, abendlichen Straßenspektakeln. Leipzig im Jahr 2009 ist, so scheint es, eine ganz normale, attraktive Universitäts- und Messestadt mitten in Europa, ein Touristenmagnet, vergleichbar mit anderen angenehmen Orten.
Leicht ließe sich dieser Illusion verfallen, würde beim Flanieren Frau Gugutschkow nicht immer wieder ihren kleinen Hefter mit den Fotokopien aufschlagen – Leipziger Stadtaufnahmen von 1989, erschütternde Dokumente eines Verfalls, einer beinahe gemordeten Stadt, in der der Himmel gräulich war durch die Abgase, die von den nahen Industriekombinaten in Bitterfeld herüberwehten, und in der die Häuserruinen ein einziges „Nur weg von hier“ signalisierten.
Und doch geschah es in jenem Sommer vor 20 Jahren, dass sich mehr und mehr Leipziger zusammenfanden, um unter dem tapferen Slogan „Wir bleiben hier“ gegen die von der SED verantwortete Verwüstung ihrer Stadt auf die Straße zu gehen.
Zuerst im Schutz der Nikolaikirche, deren weltberühmt gewordenes Schild „Offen für alle“ noch immer neben dem Eingang prangt, dann schließlich auf den Straßen der Stadt, wo sie von der Staatsmacht weggedrängt, zusammengeschlagen und auf Lkws ins Gefängnis transportiert worden waren, ehe dann die berühmte Massendemonstration vom 9. Oktober die Wende brachte: das Wunder von Leipzig nämlich, der eigentliche Beginn der friedlichen Revolution in der DDR, als die verhasste Obrigkeit auf all die brennenden Kerzen und „Keine Gewalt – wir sind das Volk“-Rufe nur noch hilflos reagieren konnte.
Was für eine Geschichte! Zum Roman geworden in Erich Loests „Nikolaikirche“, bekannt auch aus den Erinnerungen des Dirigenten Kurt Masur, des damals wohl prominentesten Akteurs, der an jenem Tag mit der SED ein Deeskalationsmodell ausgehandelt hatte, ist diese ganz genuine Leipziger Geschichte doch vor allem etwas, das allen Bürgern dieser Stadt gehört.
Schließlich waren ja 70.000 von ihnen damals auf die Straße gegangen, voller Angst und voller Mut. Es ist deshalb mehr als ein Touristenspektaktel, wenn am zwanzigsten Jahrestag der Ereignisse eine riesige, von Künstlern aus ganz Europa vorbereitete Licht-, Video- und Musikinstallation entlang des damaligen Demonstrationsweges zu sehen sein wird (detaillierte Informationen: www.herbst89.de , www.leipziger-freiheit.de ).
Schon jetzt aber kann man sich auf den Weg vom Hauptbahnhof über den Tröndlin- und Goerdeler-Ring zu jener „Runden Ecke“ am Dittrich-Ring begeben, wo sich die Stasi-Verwaltung befand.
Heute ist hier ein Museum der Bürgerrechtsbewegung zu finden ( www.runde-ecke-leipzig.de ) – mit altem Linoleumboden, dem bedrückenden Geruch von DDR-Putzmitteln, Observierungsfotos und Honecker-Bildern, auf den Gängen aber neugierige Leute aus all jenen Ländern der Welt, in die nun auch die Leipziger reisen können. Ein immenses Freiheitsgeschenk, das sich die Bürger der Stadt gemacht haben.
Mödlareuth – von Beton geteilt
Ob die Mödlareuther heute ebenso gern reisen? Immerhin steht in ihrem einst geteilten 52-Seelen-Ort gleich neben dem Dorfteich ein Schild mit der Aufschrift: „Nach Berlin 300 km, nach München 300 km – wir sind hier mitten in Deutschland.“
Bis 1989 war der Ort, Regierungsbezirk Oberfranken auf der einen Seite, DDR-Bezirk Gera auf der anderen, längs des schmalen, sanft dahinplätschernden Tannbachs von einer 700 Meter langen Betonmauer getrennt, inklusive weiterer Scheußlichkeiten: Stacheldraht, Hundelaufgatter, Peitschenlampen, Wachtürme.
Seit alters her war am Dorfbach die Grenze zwischen diversen deutschen Klein-Königreichen verlaufen, doch erst die SED hatte hier jene Fakten aus Beton geschaffen, die Mödlareuth jahrzehntelang teilten.
„Schauen’S da oben, unter dem Giebel, da hatte sich die Stasi eingenistet, um abzuhören, zu fotografieren oder ihre Videoaufnahmen zu machen. Net einmal gefragt ham’s die Leut da im Haus.“
Die Information zu jenem ansonsten eher unscheinbaren, auf der Ostseite gelegenen Einfamilienhaus wird dabei gleich in zwei Dialekten geliefert: Thüringisch auf der einen, Fränkisch auf der anderen Seite.
Heute gehört Mödlareuth zur einen Hälfte zum Freistaat Bayern, zur anderen zum Freistaat Thüringen, aber was will das schon heißen angesichts der bis zum November 1989 gemeinsam durchlittenen Vergangenheit und einer nun miteinander geteilten Gegenwart: Die inzwischen detailgetreu rekonstruierten Grenzanlagen befinden sich auf einem Freigelände im Osten, das inzwischen zum Besuchermagnet gewordene Deutsch-Deutsche Museum dagegen steht im Westen.
Beiderseits der ehemaligen Grenze riecht es wohltuend nach Land und geerntetem Heu, blinkt Sonne in den Fenstern der Fachwerkhäuser, wird von den Alten dies- und jenseits des Tannbachs freundlich kommentiert, wenn eine der Ortskatzen wieder einmal Nachwuchs bekommen hat und kleine schwarze Wollbällchen durchs Bild rollen. Um ein ansonsten reichlich abgegriffenes Klischee aufzugreifen: Die Idylle – hier trügt sie nicht. Freilich erst seit 20 Jahren.
Symbolische Orte in Berlin
Berlin hat, im Unterschied zu Mödlareuth, zwar kaum noch Mauerreste zu bieten, dafür aber eine Reihe symbolischer Orte. Zum Beispiel die Brücke an der Bornholmer Straße – jenen Grenzübergang, der in der Nacht vom 9. November 1989 als erster geöffnet wurde, nachdem zuvor von SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski vor laufenden Fernsehkameras die freie Ausreise aus der DDR („sofort, unverzüglich“) angekündigt worden war.
Was aber erinnert heute daran? Eine magere Gedenksäule, die in immerhin acht Sprachen über die damalige, um die ganze Welt gehende Euphorie informiert, allerdings auch beklebt ist mit hasserfüllten Stickern der seltsamerweise noch immer existierenden FDJ: „20 Jahre BRD sind genug“. Derweil fahren am ehemaligen Geisterbahnhof Bornholmer Straße die S-Bahnen wie selbstverständlich von Pankow (Ost) nach Lichtenrade (West).
Doch wer sich wirklich erinnern will, muss hinunter zum Alexanderplatz, der nach nunmehr 20 Jahren langsam aus seiner architektonischen Unwirtlichkeit zu erwachen beginnt. Vielleicht liegt es an der Freiluftausstellung, die just hier noch bis November zu sehen ist: Szenen einer gelungenen Revolution – Fotografien, Fernseh-Clips, präzise Erläuterungen in Deutsch und Englisch.
Am 7. Oktober 1989 hatte das SED-Regime die Demonstranten unter der berühmten Weltzeituhr noch zusammengeprügelt, bei der Kundgebung am 4. November aber war die Übermacht des Volkes dann schon zu groß.
Doch selbst zu diesem Zeitpunkt, die Ausstellungsbilder erinnern daran, hätte noch alles anders kommen können. Zumindest wenn es nach den Wünschen eines wendig kleinen Nickelbebrillten gegangen wäre, der damals unter sofort einsetzenden Buhrufen ins Mikrofon gerufen hatte: „Egon Krenz verdient eine Chance und Vertrauen.“
Heute dagegen lächelt – auf den Wahlplakaten gleich hinter dem Alex – derselbe Herr, Gregor Gysi, auf die Leute herab und verspricht „Reichtum für alle“. Aber selbst das, denkt der Besucher, muss eine Demokratie aushalten.