Filmreife Gegend am Rande Berlins

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Andrea Lammert

Rappelvoll ruckelt die alte deutsche Straßenbahn zum indischen Palast. In dem kleinen Wagen drängeln sich Journalisten, Schaulustige und Komparsen.

Rappelvoll ruckelt die alte deutsche Straßenbahn zum indischen Palast. In dem kleinen Wagen drängeln sich Journalisten, Schaulustige und Komparsen. Die Hotels im Ort sind ausgebucht, in den Restaurants kein Platz frei. Alle wollen nach Woltersdorf, die Elefanten im indischen Palast sehen. Vor 85 Jahren erlebte das kleine Dorf am Rande Berlins seine Glanzzeit. Das Dornröschen der märkischen Gemeinden, wachgeküsst vom Filmproduzenten Joe May. Er verwandelte Woltersdorf in die Kulisse für deutsche Stummfilme wie "Der Tiger von Eschnapur" oder "König Makombe".

Direkt am See, auf dem Weg von Woltersdorf nach Rüdersdorf, tauchen in einem Vorgarten hinter dem Krankenhaus große Säulen auf. Keine modernen Garten-Accessoires, sondern echte Ruinen, Reste der Filmstadt. Sie stammen aus dem Palast von Eschnapur. "Der ,Tiger von Eschnapur' war nur einer von 50 Filmen, die hier in Woltersdorf und Rüdersdorf gedreht worden sind", erzählt Gerald Ramm.

Der Hobbyhistoriker und Inhaber eines Bestattungsinstituts hat in mühevoller Kleinarbeit Zeitzeugen befragt, Archivmaterial zusammengesucht und sogar noch Reste der Kulissen ausgegraben. Alles zu sehen heute in einer Dauerausstellung im Woltersdorfer Aussichtsturm.

Dort oben, 127 Meter über dem Meeresspiegel, erahnt man, was die Filmwelt nach Woltersdorf gezogen hat: Beinahe wie eine Insel windet sich das Schleusenviertel um die Ufer dreier Seen. Am Fuße des Kranichbergs, auf dem der Aussichtsturm steht, verbindet eine Schleuse Kalksee und Flakensee miteinander. Hier gilt Vorfahrt für Wasserfahrzeuge. Steuert ein Boot, sei es noch so klein, die Schleuse an, klappt sich die Straße hoch. "Ein technisches Wunder" wie ein englischer Besucher im Vorbeigehen murmelt. Bis nach Berlin schippert so mancher Woltersdorfer über Flüsse, Kanäle und Seen. Auch während der Filmzeit ist das Schleusenviertel beliebter Treffpunkt für Ausflügler und Filmcrew. Dort, wo heute ein kleines Ausflugszentrum mit Hotels und Gaststätten entstanden ist, wo Besucher sich Boote leihen oder in den Sonnenuntergang über dem Flakensee träumen, feiern und flanieren 1921 die Stars von gestern: Mia May, Harry Piel oder Conrad Veidt.

Auch sie haben bestimmt schon damals ihre Späße über die Liebesquelle gemacht. Diese entspringt ganz nah an der Schleuse. "Ob sie hält, was der Name verspricht, sollte jeder selbst ausprobieren", meint eine Woltersdorferin lachend, als sie das Quellwasser in Flaschen füllt. "Mir schmeckt es jedenfalls."

"Wasser, Wälder und Kalkfelsen ganz in der Nähe von Berlin. Das war einer der Gründe, warum Woltersdorf damals zur Filmstadt wurde", berichtet Heimatforscher Ramm. Wasser in Woltersdorf, Westernkulissen aus Kalksteinfelsen in Rüdersdorf. Die Geschichte des größten Kalkabbaugebietes Europas zeigt heute das Museumsdorf Rüdersdorf.

Rüdersdorf und Woltersdorf werden je nach Bedarf zur indischen Landschaft, zum amerikanischen Westernschauplatz oder zur afrikanischen Savanne. Unter den 50 dort gedrehten Filmen sind viele Western von Harry Piel oder Afrika-Filme von Hans Schomburgk. Sämtliche dunkelhäutige Statisten tummeln sich damals in Woltersdorf. Ramm: "Eine Märkergemeinde anno 1920 mit fast fünf Prozent Farbigen - eine damals äußerst seltene Konstellation." Noch viel ungewöhnlicher sind die dunkelhäutigen Kinder, die einige Woltersdorferinnen in dieser Zeit zur Welt bringen. Größere Kinder schwammen über den Kalksee zur Filmstadt, lugten durch die Zäune oder verdingten sich als Statisten.

"Die Kinder bekamen für die Dreharbeiten schulfrei. Zeitweise arbeitete das ganze Dorf nur für den Film", so Ramm. Dutzende Säulen, Tiere, Buddhastatuen und Mangrovenbäume oder Bananenstauden müssen aus Gips, Holz und Beton gebaut werden. Am Strandbad von Woltersdorf entsteht eine komplette indische Palastanlage. Krokodile tummeln sich in einer durch Zaun abgetrennten Bucht. Für die Tiere aus dem Berliner Zoo lässt Joe May das Wasser erwärmen. Elefanten trompeten durch die Landschaft. Die Tiere des Zirkus Sarasani fahren bis Erkner mit der Bahn und marschieren von dort als zehnköpfige Herde zur Filmstadt. "Das war eine Sensation, Kinder haben die Schule geschwänzt, um sich das anzusehen", weiß Ramm.

Hagenbecks Tierpark schickt die Tiger aus Hamburg, die viele Einheimische für Löwen halten, auch Zeitzeuge Gerhard Falkenberg aus Erkner: "Wir hörten oft das Brüllen der Löwen und der Elefanten. Später sah ich mir dann auch den Krokodilsteich von Nahem an." Er erinnert sich auch an ein angekettetes Motorboot, das im Kalksee als Wellenmaschine gedient hat.

Die Filmstadt bringt in den Zwanziger-Jahren goldene Zeiten ins Dorf. Und Aufträge: Vor allem für Handwerker - vom Schreiner über den Stukkateur bis zum Bootsbauer. Viele arbeiten als Statisten, wie auch Georg Beck. In einer Befragung erfuhr Ramm von ihm: "Wie oft ich auf dem Filmplatz war? Na, jeden Tag! Das war einfach das Größte, was Woltersdorf je gesehen hat."

Die Blüte des Ortes hält nur während der 20er-Jahre an. "Weltwirtschaftskrise, Inflation machen den Filmemachern zu schaffen." 1933 flüchtet Nichtarier Joe May mit seiner Familie aus Deutschland - und hinterlässt in Woltersdorf eine verlassene indische Geisterstadt. Die Kulissen verkommen. Materialmangel in der sozialistischen Wirtschaft nach dem Krieg sorgt dafür, dass das Übriggebliebene ganz pragmatisch verbaut wird. Nur einer versucht, die großartigen Bauten zu retten: Arthur Fischer. Der Kunstprofessor wohnt am gegenüberliegenden Seeufer des Kalksees und lässt die Bauteile des Dschungelpalastes samt Buddhastatuen, Säulen und Gartenpavillons auf "seine" Seite des Sees schiffen. Er baut sich seinen eigenen Traum von Indien aus den Resten der Kulissen. Nach seinem Tode verfällt auch dieses letzte Denkmal, im Sozialismus ist Gedenken an Hollywoodkünstler nicht erwünscht.

So ganz vergessen ist Woltersdorf bei den Filmemachern aber nicht. Immer mal wieder erinnert sich der eine oder andere Produzent an die idealen Bedingungen am Kalksee. Hier wurden "Lexx - The dark zone", die Axel-Springer-Biographie oder "Das Duell" gedreht.

Die Betonsockel des Palastes von Eschnapur stecken heute in vielen Einfamilienhäusern, das Verwaltungsgebäude der Filmgesellschaft wurde in ein Altersheim verwandelt, das Kurhaus, wo May den Champagner nur so fließen ließ, beherbergt heute ein Krankenhaus. Noch zu sehen sind die Säulen am Kalkseeufer und ein Pavillon auf einer Seeinsel. Und die alte Straßenbahn ruckelt noch immer in gemütlichem Tempo von Rahnsdorf nach Woltersdorf - ohne Journalisten und Komparsen. Am Kalksee gibt es weder Krokodile noch Kulissen - doch neben der Erinnerung filmreife Landschaft und einen wunderschönen kleinen Ort.

Auskunft: Woltersdorfer Aussichtsturm, April-Oktober, tgl. bis 15 Uhr. Verschönerungsverein e.V., Tel.: 03362/2 29 11,

Tel.: 6 15 62 (Anmeldung);

Tel.: 2 47 93 (Turm)