Als sie es erfuhr, sagten die Ärzte: “Fragen Sie sich jetzt bloß nicht, woher Sie den Krebs haben.
Als sie es erfuhr, sagten die Ärzte: "Fragen Sie sich jetzt bloß nicht, woher Sie den Krebs haben. Grübeln hilft bei der Heilung gar nichts." Dana Janetzky war 35, als sie Krebs bekam. Es war Silvester, sie hatte Fieber und zwei geschwollene Lymphknoten. Fünf Tage später war der Befund da. Ein Knoten in der Brust. Als sie das Sprechzimmer im Krankenhaus betrat, hörte sie eine Sprechstundenhilfe zur anderen sagen: "Schon wieder eine aus Siedenbollentin".
Siedenbollentin ist kein besonderes Dorf. Ein Flecken mit rund 600 Einwohnern in der weiten Landschaft Mecklenburgs zwischen Demmin und Neubrandenburg. Ein friedlicher Ort mit Kühen und Schafen und einem Schweinestall aus DDR-Zeiten. Neu ist nur das Flüstern aus weiter Ferne, wo die Karawane der LKW auf der A 20 vorbeizieht.
Die "neuen Neubauten" am Dorfrand sind bunt, das Einfamilienhaus, in dem Dana Janetzky heute mit ihrem Mann und der 16-jährigen Tochter lebt, sogar quittengelb. Hinter den Wohnzimmerfenstern versinkt abends die Sonne im grünen Meer der Felder. Das Haus haben die Janetzkys andersherum bauen lassen, als der Architekt es vorhatte. Es steht vom Dorf abgewandt. Heute, sagt Dana Janetzky, komme ihr das vor wie ein Zeichen. Denn so sehen sie den Mobilfunkmast nicht mehr, der weiter hinten im Dorf steht wie ein Menetekel, und unter dem sie die zehn Jahre gewohnt haben. Sie waren gerade sechs Wochen in das neue Haus umgezogen, als die Krebs-Diagnose kam.
Ob der Mast tatsächlich schuld daran ist, kann Dana Janetzky nicht sagen. Sie wüsste es gern, sagt sie, aber inzwischen hat sie das Gefühl, sie stehe mit dieser Frage allein. Dabei war sie 2005 schon die achte Krebspatientin in Siedenbollentin. Allein vier Frauen bekamen Brustkrebs. Immer, wenn wieder eine mit Kopftuch durch den Ort lief oder mit Perücke, mit diesem weichen Gesicht, wimpernlos und verletzlich durch die Chemotherapie, schüttelten die Leute den Kopf und sagten: "Schon wieder eine".
"Wir fragten uns natürlich, ob das normal ist - acht Personen in einem Jahr, aus so einem kleinen Dorf?" Sie rechneten nach und stellten fest, es gab noch viel mehr Krebskranke. Insgesamt kamen sie auf 19, die noch lebten. Von den 16 in letzter Zeit verstorbenen Patienten hatten 15 im Radius rund 400 Metern des Sendemastes gelebt, der nach Meinung mancher Fachleute als potenziell gefährlich gilt.
Anfang 2006 meldeten die Onkologen der Klinik in Neubrandenburg die Zahl der Krebsfälle in Siedenbollentin an das Gesundheitsamt in Demmin. "Doch es dauerte fast zehn Monate, bis etwas passierte", sagt Dana Janetzky. "Erst im September befragte uns jemand nach unseren Lebensgewohnheiten." Dana Janetzky klingt ein wenig empört. Sie habe in ihrem Leben nie geraucht, kaum Alkohol getrunken, viel Sport getrieben - und viel gearbeitet, sagt sie.
"Als ich meine Krebs-Diagnose bekam, dachte ich zuerst, so, das war's", sagt Dana Janetzky. Kurz zuvor war eine Frau aus dem Dorf daran gestorben, mit nur 29 Jahren. "Sie hinterließ einen anderthalbjährigen Sohn." Sie versucht, nicht wütend zu klingen, nicht zu weinen. Nach der Operation habe ihr der Chefarzt gesagt, sie würde wieder gesund. "Da wusste ich, ich kann es schaffen." Ihr Mann fuhr sie regelmäßig zur Chemotherapie, 30 Kilometer hin und zurück, neben der Arbeit als Dachklempner, "er durfte abends das Firmenauto mitnehmen", sagt sie, es klingt dankbar für das, was man wohl eine heile Familie nennen kann. Die Tochter hat gerade ihren Schulabschluss geschafft, trotz allem, und möchte Kosmetikerin werden. Die Tochter lächelt vorsichtig. Am schlimmsten sei für sie gewesen, sagt sie zur Mutter, "als du während der Chemotherapie auf dem Sofa lagst, so schwach und hilflos". Dana Janetzky möchte nicht hilflos sein. "Mein Sternzeichen ist Löwe, ich hab' immer gekämpft", sagt sie. Dann kommen doch Tränen, sie spricht trotzdem weiter. "Man nimmt diese Krankheit als Zeichen, das man was verändern will." Das Leben geht weiter. Und der Kampf um das Warum.
2006 erschien ein Artikel über Siedenbollentin in der Lokalzeitung: "Ein Dorf fürchtet sich vor Krebs". Bei den Janetzkys riefen danach Wünschelrutengänger und Heilpraktiker an. Im Januar 2007 schließlich kam Post vom Gesundheitsamt. Laut Krebsregister in Berlin hätte es in Siedenbollentin 1,18 Krebspatienten mehr geben müssen, um den Durchschnittswert von Mecklenburg-Vorpommern zu überschreiten. Man habe die Strahlen des Sendemastes messen lassen. Ergebnis: Es seien sogar noch viermal höhere Werte zulässig. Das Amt verwies auf eine "unübersehbare Anzahl von Studien und Hinweisen mit völlig entgegengesetzten Meinungen" zum Thema Mobilfunkmasten. Auch die Schweinemastanlage und das Trinkwasser kämen als Krebsverursacher nicht in Frage.
Dana Janetzky fühlte sich von all dem nicht gemeint, unter anderem, weil sie selbst in den statistischen Zahlen des Krebsregisters gar nicht vorkam - sie stammten von 1999 bis 2003.
Dana Janetzky ist keine Spinnerin. Und sie weiß, dass sie nicht allein ist. Unter den Zuschriften, die sie bekam, waren nicht nur esoterische Angebote, sondern viele von Leuten mit verblüffend ähnlichen Problemen. Aus Rubkow, nicht weit von Siedenbollentin, schrieb eine Leserin: "Wir sind 200 Einwohner, es gibt 17 Krebsfälle." Bürgermeister und Landarzt der Region reagieren überrascht, sie kennen diese Zahlen nicht. Beim Krebsregister ist der Ort bisher nicht aufgefallen.
Ebenso ist es in Steinbach-Hallenberg im Thüringer Wald. Anfang der 90er wurde ein Sendemast aufgestellt. "Auf 500 Metern haben neun Frauen Brustkrebs", berichteten Anwohner vor gut einem Jahr, "insgesamt gab es 17 Krebsfälle innerhalb von vier Jahren". Auch hier war dem Krebsregister das erhöhte Krebsrisiko zunächst nicht bekannt. Auf Anfrage errechneten die überraschten Statistiker einen theoretischen Wert für die Straße: Statt der erwarteten 1,25 Krebsfälle waren es zehn. Konsequenzen hatte diese Erkenntnis nicht, im Gegenteil. Demnächst wird ein zweiter Sendmast aufgestellt. Die Gemeinde hatte sich dagegen ausgesprochen, doch die Genehmigungen erteilt die Bundesnetzagentur in Bonn. Laut dieser sind die Grenzwerte im Ort nicht überschritten.
Im bayerischen Oberammergau klagen fast fünf Prozent der Bevölkerung seit Herbst 2006 über Schlaflosigkeit, Herzrasen und Kopfschmerzen, seit dort Mobilfunkmasten auf ein anderes Datenverfahren umgerüstet wurden. Die bayerische Umweltbehörde maß nach: Die Richtwerte waren längst nicht erreicht. Ähnliches erlebte auch die schlafgestörte Familie Kind aus Dresden, die 2004 vor den Strahlen eines Mobilfunkmastes in den Keller des eigenen Hauses floh und später ganz wegzog. Der Prozess um den Mast ist im kommenden Mai.
Die Liste ließe sich unendlich fortsetzen. Inzwischen haben sich rund 200 Bürgerinitiativen gegen Handymasten in Wohngebieten im Internet auf einer Liste eingetragen, fast täglich werden es mehr. Fast täglich erscheinen in Lokalzeitungen Berichte über verärgerte Bürger, die keinen Sender vor der Haustür wollen.
Auf den Homepages werden Studien diskutiert wie die aus dem oberfränkischen Städtchen Naila, wo 2004 Hausärzte festgestellt hatten, im Umkreis von 400 Metern einer Mobilfunkstation seien mehr Menschen an Krebs erkrankt als weiter entfernt. Später hieß es jedoch, die Daten hätten nicht ausgereicht, zudem sei ein weiterer Sendemast in dem Ort nicht berücksichtigt worden. 2006 untersuchten Wissenschaftler den Zusammenhang von Mobilfunkbasisstationen und Krebshäufigkeit in Bayern - sie fanden keinen. Manche Kritiker verweisen darauf, dass die Höchstwerte für Strahlen in anderen Ländern weitaus niedriger seien. Doch ob eine Absenkung die Lösung ist, ist zweifelhaft - fast nirgends werden diese Werte ausgeschöpft. "Nach wissenschaftlichen Kenntnisstand gibt es innerhalb der Grenzwerte keine Gefährdung durch den Mobilfunk", sagt der Sprecher des Bundesamtes für Strahlenschutz, Florian Emrich. "In der Regel geht von Handys eine weit größere Belastung aus als von Masten. Wir empfehlen, die Strahlenbelastung durch das eigene Telefonierverhalten zu reduzieren".
Das Bundesamt für Strahlenschutz koordiniert seit 2002 die weltweit größte Studie zum Thema Mobilfunk-Strahlen. Doch wissenschaftlich nachweisbar ist bisher nur eine einzige Auswirkungen der Mobilfunkmasten - die Schlaflosigkeit. "Dass diese in der Nähe der Masten auftreten, ist unbestritten", sagt die Biologin Heidi Danker-Hopfe. Sie leitet das Schlaflabor in der Psychiatrie der Charité Berlin und führt zurzeit eine Feldstudie durch. Etwa 300 Bewohner von Orten mit "Funklöchern" werden jeweils zwölf Tage durch einen mobilen Sendemast nachts mal "bestrahlt" und mal nicht. Die Studie soll klären, ob die Strahlen die Menschen schlaflos machen oder ihre Angst davor. Einen Effekt dürfte die Studie jetzt schon haben - Mobilfunkgegner fühlen sich ernst genommen.
Denn zu den Sorgen wegen der Strahlen kommt bei vielen das Gefühl, damit allein zu sein. Dana Janetzky nahm nach vielen erfolglosen Hilfeersuchen auch Kontakt mit dem SPD-Bundestagsabgeordneten ihres Kreises auf, Dirk Manzewski. Sein Büro lud ihn nach Berlin ein. "Wir hofften auf einen Ansprechpartner im Bundestag", sagt sie. Stattdessen wurde es ein touristischer Hauptstadtbesuch für gesunde Menschen ohne wirkliche Fragen. Zum Schluss gab ihr jemand die Karte eines weiteren Abgeordneten. Er stammt aus Strasburg (Uckermark) und sitzt heute im EU-Parlament in Straßburg (Elsass). Inwiefern ihn das in Sachen Strahlengefahr qualifiziert, erfuhr Dana Janetzky nicht.
Inzwischen hat sie auch im Ort nicht mehr viel Zuspruch. Die anderen Krebspatientinnen wollen nicht mehr mit den Medien reden. Der Bürgermeister tut sich schwer, das K-Wort in den Mund zu nehmen. Er verweist auf die Messungen. Ja, die Zahl der Krebsfälle sei wohl trotzdem beunruhigend. Vielleicht seien es ja Spätfolgen von Tschernobyl, meint er noch. "Die Leute haben vielleicht Angst, dass das Dorf ins Gerede kommt", vermutet Dana Janetzky.
Unter dem Sendemast von Siedenbollentin grasen derweil die Schafe. Daneben sitzen die Bewohner des diakonischen Pflegeheims auf der Terrasse und trinken Kaffee. Um die Ecke, immer noch im gedachten Gefahren-Radius der Sendestrahlen, hat ein Imbisswagen Halt gemacht. Er verkauft Hühner und Döner. Die Köpfe der Wartenden in der Schlange drehen sich weg, als die Frage nach dem Mast kommt. "Wir sind nicht von hier", sagen die einen. "Ich wohne direkt darunter", sagt eine ältere Dame. Als sie sich wieder dem Döner zuwendet, setzt sie ein strahlendes Lächeln auf. Angst kann auch so aussehen: wie kalte Schultern. Als ob gar nichts wäre. Glaubt man den Dorfbewohnern, war die größte Katastrophe der letzten Zeit ein Sturm. Er deckte mehrere Dächer ab.