Die Nummer mit dem Todeskuss

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Uta Keseling

Die Szene war die größte Attraktion im Staatszirkus der DDR. Ein 3,40 Meter hoher Koloss, der mehr wog als ein Trabant, führte artig eine winzige Frau am Arm in die Manege.

Die Szene war die größte Attraktion im Staatszirkus der DDR. Ein 3,40 Meter hoher Koloss, der mehr wog als ein Trabant, führte artig eine winzige Frau am Arm in die Manege. Während die nur 1,58 Zentimeter kleine Blondine verliebt zu ihrem massigen Begleiter aufschaute, auf seinen flauschigen weißen Wuschelbauch und die gigantischen Tatzen, verneigte sich dieser liebevoll - und küsste die Dompteurin Ursula Böttcher direkt auf den Mund. Schmatz, Tusch, rasender Applaus.

Wie niedlich! Das musste Liebe sein. In den 70er-Jahren weckte die Zirkusnummer mit den riesigen Eisbären und der kleinen Frau aus Berlin weltweit dieselben Gefühle beim Publikum wie heutzutage das Eisbär-Baby Knut. Dessen Mutter Tosca war Mitglied der küssenden Eisbärentruppe, die es zu weltweitem Ruhm brachte und heute fast vergessen ist. Die kleine Frau Böttcher, "the Baroness of the Bears", wie die Amerikaner sie nannten, könnte viel aus ihrem unglaublich spannenden Leben mit den Riesentieren erzählen. Denn sie war die erste Frau, die jemals Eisbären bändigte und dressierte, wurde dafür mit dem Zirkus-Oscar prämiert - als erste Frau weltweit.

Doch darüber möchte sie nicht mehr sprechen. 1999 stand Ursula Böttcher eines Morgens vor leeren Käfigen am Zirkus-Winterquartier in Hoppegarten. Die Eisbären waren weg. Einfach verkauft, als Konkursmasse des Staatszirkusses. Für Ursula Böttcher bedeuteten die leeren Käfige nicht nur das Ende ihrer Karriere. Es war das Ende einer Familie.

"Ursula hat ihre Tiere immer als ihre Kinder betrachtet", sagt Siegfried Blüthchen, ihr Bruder, der ihr Leben 1999 als Buch aufgeschrieben hat. Darin erzählt er von einer starken Frau aus einfachsten Verhältnissen, die eine unglaubliche Karriere machte. Es ist ein Buch vom Bombenkrieg und Armut, vom Leben zwischen den politischen Systemen, und eben von wilden Tieren - und wie es einer Frau gelang, selbige zu dressieren. Das Buch ist nicht wieder aufgelegt worden. Möglicherweise ist auch das Teil der Geschichte.

1927 geboren, wächst Ursula - ihr Name bedeutet "kleine Bärin" - am Rande Dresdens auf, ein Mädchen, das sich den Mund nicht verbieten lässt und von der Freiheit träumt. Nach der Schule weigert sie sich, die typische Frauenrolle einzunehmen, die der Nationalsozialismus ihr vorgibt, und wird Telegraphenbotin auf dem Fahrrad. Dann verliebt sie sich - in den Zirkus. Sie habe als Putzfrau dort angefangen, vermerkt der Bruder stolz, und sich zunächst zur Witzfigur auf einem Esel und später bis zur Löwenbändigerin hochgearbeitet. Die Eisbären bekam sie 1971, weil sie so klein war. Wie man sie dressierte, lernte sie zunächst von Bären- und Löwenbändigern. Später gab sie selbst ihr wissen weiter - über Eisbärdressur wusste man zuvor wenig. 1978 ehrte sie das Heimatland mit der Sonderbriefmarke "Zirkuskunst in der DDR".

1952, als Ursula Böttcher beim Zirkus begann, war Tierschutz noch kein Thema. Sie musste selbst herausfinden, was ihre Bären brauchten (viel Wasser, klare Anweisungen) und was nicht (die Peitsche). Über Eisbären und deren Dressur war bisher wenig bekannt, der Umgang mit Bären gilt als hochgefährlich. Denn was sie umtreibt, ist ihnen nicht einfach im Gesicht abzulesen wie etwa bei Raubkatzen, die über Mienenspiel, Schnurrhaare und Schweif viel über ihren Gemütszustand mitteilen.

Ursula Böttcher gelang das Kunststück, anderen nicht. 1990 musste sie mit ansehen, wie ihr Lebenspartner starb. Er hatte sich mit Kodiakbären in die Manege gewagt, die noch größer und unberechenbarer sind als Eisbären. Sie selbst hatte den Tieren misstraut. Sie fielen vor ihren Augen über ihn her. Sie reiste und lebte dennoch weiter mit den Eisbären - mit ihrer Familie,

Rund acht Jahre hat Ursula Böttcher in den USA gelebt. Ab 1981 reiste sie wieder um die Welt und kam bis nach Japan. Zwischendrin kehrte sie immer wieder nach Ost-Berlin zurück, obwohl die Mangelverwaltung des Sozialismus für sie und die Tiere manchen Verzicht bedeutete. Die Zirkuswagen waren klein und verschlissen. Doch nicht nur die Wagen, auch die Tiere gehörten, wie sämtliche Ausrüstung, dem VEB Zentral-Zirkus, also dem Staat.

Ab 1990 wurde der Staatszirkus der DDR in die Hände der Treuhand gegeben, die die Überbleibsel zu Geld machte. Ursula Böttcher kam mit den Bären zunächst in Spanien unter. Dort holten sie die veränderten Zeiten endgültig ein. Tierschützer forderten vehement eine "artgerechtere" Haltung der Zirkusbären, Boulevardmedien erledigten den Rest. Wenn es ein Gefühl gibt, das die vermeintliche Liebe zu Tieren überwiegt, dann das Mitleid, geschürt durch Bilder von traurigen Tieraugen. Ursula Böttcher kehrte zurück nach Berlin.

Zirkus-Eisbärennummern gibt es heute in Deutschland nicht mehr. Neue Leitlinien für Wildtiere in Zirkussen verhindern das im Namen der artgerechten Haltung. Das Publikum möchte heute statt balancierenden Bären und Küsschen-Nummern lieber "naturnahe" Bilder von Wildtieren sehen. Sobald Knut seine Tatzen und Reißzähne gewetzt hat, wird sein Tierpfleger auf weitere Annäherungsversuche sicher verzichten.

Es gibt eben doch keine Liebe zwischen Menschen und Bären. Letztlich ging es auch beim "Todeskuss" zwischen Eisbär und Ursula Böttcher nur um ein Stück Fleisch. Der Kuss habe widerlich geschmeckt, enthüllte Ursula Böttcher später, nach Lebertran, dem Lieblingsgetränk ihrer Bären. Sie wurden zwar regelmäßig shampooniert, aber Zähneputzen stand dann doch nicht auf dem Plan. Ihr ältester Eisbär wurde übrigens 37 Jahre alt, mehr als in Freiheit je möglich wäre.

Dass die Eisbären ihre Dompteurin beim Küssen nicht mit verspeisten, war nicht Liebe, sondern eine Sache des Respekts. Davon haben ihr die Tiere sicher mehr entgegengebracht als die Menschen. Ende April 1999, kurz nach dem Verkauf der letzten drei Eisbären an den Berliner Zoo, schickte ihr der Zirkus-Liquidator die Kündigung. Sie umfasste eineinhalb Zeilen.