Deutschland ist Weltmeister. Nicht nur beim Warenexport, sondern auch bei der Zahl der künstlichen Kniegelenke, die alljährlich implantiert werden müssen. Ist denn das deutsche Knie besonders anfällig für Verschleiß? Oder sind die Deutschen besonders aktiv bei Sportarten, die das Knie ramponieren? Wohl kaum. Medizinisch lässt sich auch das nicht erklären: Von 2005 bis 2011 stieg die Zahl der erstmaligen Gelenksimplantationen von 112,6 auf 129,5 pro 100.000 Einwohner. Macht eine Zunahme von 15 Prozent in nur sechs Jahren. Noch viel stärker hat die Zahl der Folgeoperationen zugenommen, also von Zweitimplantationen.
Auf diese Ungereimtheiten macht die Bertelsmann-Stiftung in ihrem neuen „Faktencheck“ aufmerksam. Nach vorangegangenen Analysen zur medizinischen Versorgung, etwa zur Verschreibung von Antibiotika für Kinder oder zu Kaiserschnitten, präsentiert die Stiftung in Gütersloh nun den „Faktencheck Knieoperation“. Wieder richten die zwölf Gutachten besonderes Augenmerk auf die regionale Verteilung der Knieoperationen innerhalb von Deutschland. Dabei berücksichtigen sie auch Kniegelenksspiegelungen.
Auch dieses Mal zeigt sich: Ob der Patient operativ behandelt wird, hängt nicht nicht nur von seinem individuellen Krankheitsbild ab, sondern auch davon, wo er wohnt. Denn regional greifen Mediziner sehr unterschiedlich zu Skalpell und Implantat. Während in Frankfurt (Oder) nur 73 von 100.000 Menschen ein Kunstgelenk bekommen, sind es in Berlin 87,1 und in Hamburg 105,9. Im mittelfränkischen Landkreis Neustadt an der Aisch-Bad Windsheim sind es gar 214. Damit ist diese Region Spitzenreiter, hier wird fast zweieinhalbmal so oft implantiert wie in Frankfurt (Oder).
Wer die interaktive Deutschlandkarte im Internet betrachtet, stellt fest, dass die Operationsraten in Bayern, Hessen, Thüringen sowie in Teilen Niedersachsens hoch sind, in Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Brandenburg dagegen niedrig. Noch deutlicher sind die Unterschiede bei Folgeoperationen, wenn also ein einmal eingesetztes Implantat defekt ist oder wieder Schmerzen auftreten. Hier liegen die regionalen Unterschiede sogar um den Faktor fünf auseinander. Während in Herne (Westfalen) und Cottbus sieben von 100.000 Einwohnern eine Folgeoperation haben, sind es in Northeim (Südniedersachsen) knapp 35, in Berlin liegt die Quote bei knapp 14. Zwischen 2005 und 2011 hat die Zahl dieser Folgeoperationen um üppige 43 Prozent zugenommen.
Wenig Arthroskopien im Osten
Gänzlich absurd wird die Diskrepanz bei Kniegelenksspiegelungen (Arthroskopien). Die sind im Prinzip nützlich, um das Innere des Kniegelenks direkt begutachten zu können. Das ist aber nur noch selten nötig, seit die Magnetresonanztomografie eine Diagnose weit schonender ermöglicht. Die Arthroskopie ist heute vor allem eine therapeutische Methode. Denn führt der Arzt neben den optischen Instrumenten auch Werkzeuge mit ins Knie ein, kann er minimalinvasiv beispielsweise Knorpel glätten oder Bänder nähen. In Brandenburg an der Havel machen Mediziner gerade einmal bei 13,8 von 100.000 Einwohnern eine Kniegelenkspiegelung, im niedersächsischen Peine dagegen fast 65 Mal häufiger: 894 Mal pro 100.000.
Fast überall in den östlichen Bundesländern wird das Knie selten arthroskopiert, in Bayern und Baden-Württemberg hingegen überwiegend häufig, Berlin liegt mit 247 im unteren Drittel. Und auf noch eine Ungereimtheit machen die Experten aufmerksam: Bestimmte therapeutische Arthroskopien sollten eigentlich gerade dazu führen, dass gar kein Knieimplantat nötig wird. Aber gerade dort, wo die Orthopäden häufig Kniegelenke spiegeln, setzen sie auch viele künstliche Gelenke ein.
Wo sind die Gründe für solche Diskrepanzen zu suchen – ob in Deutschlands Spitzenposition im internationalen Vergleich oder in den regionalen Unterschieden innerhalb der Bundesrepublik? Klar ist: Die Bevölkerung in den Industriestaaten altert, der Nachwuchs wird rar. Da wundert es nicht, wenn die Zahl der Behandlungen steigt, die mit altersbedingten Krankheiten zusammenhängen. Doch Epidemiologen, die Experten für die Häufigkeit und Verbreitung von Krankheiten, kennen eine Reihe von Behandlungsverfahren, die überproportional zunehmen, deren Zunahme aber nicht ausschließlich durch einen höheren Anteil an Senioren zu erklären ist. Oder Behandlungen, die in einigen Regionen oder Staaten mit vergleichbarer Bevölkerungsstruktur sehr viel häufiger durchgeführt werden als in anderen.
Das Altersargument greift für die aktuelle Kniegelenksstudie ohnehin nicht, denn die veröffentlichten Zahlen sind „altersstandardisiert“, sie wurden also statistisch so korrigiert, dass man „alte“ Landkreise (wie vergleichsweise häufig in Ostdeutschland durch Abwanderung) mit „jüngeren“ Kreisen (beispielsweise solche mit hohem Studentenanteil) auch wirklich vergleichen kann. Medizinisch kann man die regionalen Unterschiede in Deutschland also nicht begründen.
Es müssen andere Ursachen vorliegen. Die führen zu medizinisch fragwürdigen Therapieentscheidungen. Bei den großen regionalen Differenzen in der Kniegelenksversorgung vermuten die Forscher wirtschaftliche und soziale Ungleichgewichte. In den „schwächeren Regionen“ (Nordosten Deutschlands) gibt es eine Unterversorgung und eventuell auch eine geringere Nachfrage der Patienten, in wohlhabenden Regionen (z. B. in Bayern) eine Überversorgung und möglicherweise stärkere Nachfrage“ durch die Patienten. In beiden Fällen müsse die „Bedarfsgerechtigkeit der Versorgung“ kritisch überprüft werden.
Den Patienten müssten verständliche Informationen zur Verfügung gestellt werden, und sie seien besser in die Entscheidungen einzubinden. Außerdem müsse die Behandlungsqualität verbessert werden: durch Therapie-Leitlinien, Aufbau und Zertifizierung von Endoprothesen-Zentren und allgemein durch mehr Kontrolle und Vergleich, also Qualitätssicherung. Krankenkassen und Ärzte müssten das Vergütungssystem so überarbeiten, dass keine Anreize für falsche Therapien entstehen.
In vorangegangenen Studien fanden die Autoren des Öfteren wirtschaftliche Ungleichgewichte, etwa regional abweichende Honorarverträge oder kleine Fachabteilungen in Kliniken, die bestimmte Therapien machen „müssen“, um noch wirtschaftlich arbeiten zu können. Dann werden unterschiedliche Therapien gewählt – weil sich ökonomisch mal das eine, mal das andere mehr lohnt.