Ernährung

Auf den "echten" Hunger hören

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Fanny Jiménez

Wer Hunger hat, der isst. Und wer keinen Hunger hat - isst meistens auch. Die Zahl der Dicken nimmt zu. Was kein Problem wäre, wenn Übergewicht, Bluthochdruck, zu hoher Cholesterinspiegel und Bewegungsmangel nicht die größten Risikofaktoren für Herz und Kreislauf wären. Essen denn alle zu viel, weil sie nicht auf die Bedürfnisse ihres Körpers achten? Oder weiß der Körper nicht, was gut für ihn ist?

Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass uns das richtige Hungerempfinden abhanden gekommen ist. Der Grund dafür müsste dann im komplexen Wechselspiel zwischen Appetit, Hunger, Essen und Sättigung liegen.

Bei der Hungerregulation spielen Hormone und körpereigene Nahrungssensoren eine Rolle, der Füllungsgrad des Magens, Nährstoffe in Darm und Leber sowie der Blutzuckerspiegel. Daneben lösen aber auch noch ganz andere Einflüsse Appetit und Sättigung aus, etwa Geruch, Geschmack, Konsistenz, Temperatur, Form und Farbe der Lebensmittel. Sensorische Vielfalt auf dem Teller führt dazu, dass ein "Satt-Signal" für eines der Nahrungsmittel gemeldet wird, für eines, das etwas anders aussieht, riecht oder schmeckt, aber nicht - und sei es nur ein Keks in einer anderen Farbe. Bei Lebensmitteln, die als Kalorienbomben gelten, stellt sich ein Völlegefühl schneller ein als für leichte Salate - nur aufgrund der Erwartung.

Fragt man den Ernährungsforscher Uwe Knop aus dem hessischen Hofheim, dann haben viele Menschen schlicht verlernt, auf ihren echten biologischen Hunger zu hören. Täten sie das, würden sie nicht nur zur richtigen Zeit genau das essen, was der Körper braucht, sondern auch aufhören, wenn der Bedarf gedeckt ist. Wer das Gefühl nicht mehr kennt, muss im Grunde nur eins tun: warten. Wer den Hunger ausreizt, bemerkt ihn spätestens, wenn er als Zeichen der Unterzuckerung nervös wird und die Hände anfangen zu zittern. Knops Rat: Nur bei wirklichem Hunger essen, und nur das wählen, was man mag und gut verträgt.

Ringsum Überfluss macht dick

"Der Körper hat über Jahre hinweg gelernt, welches Essen ihm welche Nährstoffe liefert und was ihm guttut. Wenn man den Hunger genau mit dem Essen befriedigt, worauf man wirklich Lust hat, fühlt man sich satt und gut", sagt er. Es klingt fast zu schön um wahr zu sein. Doch dass die These dieser "kulinarischen Körperintelligenz", über das Uwe Knop auch ein Buch geschrieben hat, tatsächlich aufgeht, bezweifelt der Ernährungspsychologe Thomas Ellrott von der Universität Göttingen. "Dass es unter Überflussbedingungen ohne ein höheres Maß an körperlicher Aktivität funktioniert, sich einfach zurückzulehnen und nur auf den inneren Hunger zu verlassen, halte ich für sehr unwahrscheinlich", sagt er.

Hunger, Durst und Sättigung seien evolutionsbiologisch darauf ausgelegt, Unterernährung zu verhindern. Es habe in der Menschheitsgeschichte nie eine längere Zeit des Überflusses gegeben, in der es wichtig war, die Nahrungsaufnahme zu begrenzen. Und darum gebe es keine in den Genen verankerte Strategien gegen das Zuviel. Nur ganz am Anfang des Lebens gibt es eine innere Stoppsteuerung, sagt Ellrott: Babys zwischen sechs und 18 Monaten ernähren sich ausgewogen, wenn man ihnen die freie Wahl lässt. "Aber sobald das Kind von der Brust weg ist, beginnen äußere Reize, diese interne Steuerung zu überformen."

Alltagsroutine, feste Essenszeiten, Zeit zum Kochen, Geld und das Wissen über Essen, alles spielt zusammen. Innere und äußere Hungerreize sind demnach so eng miteinander verwoben, dass es keinen "echten" Hunger mehr gibt. Dass äußere Reize eine wichtige Rolle beim Hungergefühl spielen, bestreitet auch Uwe Knop nicht. Er glaubt aber, dass sich biologischer Hunger klar von anderen Gründen zu essen unterscheiden lässt. "Wenn Sie etwa aus Stress essen, aus Frust oder Langeweile, dann wollen Sie damit Ihre Seele füttern." Wer darauf achtet, werde feststellen, dass kein echter Hunger da ist. "Das sollte man unterscheiden lernen."

Uwe Knop hat mehr als 1100 Menschen befragt, und 76 Prozent von ihnen sagten, sie würden ihren echten biologischen Hunger durchaus kennen. Antje Gahl, Ernährungswissenschaftlerin bei der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, bezweifelt das, verlässliche Studien gebe es dazu nicht. Auch Thomas Ellrott ist skeptisch: "Die entscheidende Frage ist, ob ein Essverhalten nach dem 'echten Hunger' dabei helfen würde, abzunehmen oder weniger ernährungsabhängige Erkrankungen zu bekommen." Denn im Adipositas-Zentrum in Göttingen, in dem Ellrott arbeitet, gibt es Patienten, die ihr ganzes Leben lang nichts anderes gemacht haben, als nach den inneren Reizen Hunger und Sättigung zu essen. Das hat sie aber nicht davor bewahrt, massives Übergewicht zu bekommen und krank zu werden.

Bewusst essen - und genießen

Andere Patienten hingegen haben oft eine regelrechte Diät-Karriere hinter sich. Sie haben mit allen Mitteln versucht, gegen das Hungergefühl anzusteuern. Viele Diäten seien rigide, was zu nachfolgenden Essanfällen führt, erklärt Ellrott. Für den Ernährungspsychologen liegt der Schlüssel zum gesunden Essen zwischen den Extremen in der 'kulinarischen Körperintelligenz'. Diese lässt den Menschen seine Essentscheidungen bewusst treffen, allerdings mit Spielraum für Genuss.

Ein Blick in die wissenschaftlichen Studien scheint Ellrott recht zu geben. Untersuchungen zeigen einen Zusammenhang zwischen flexibler Esskontrolle und niedrigem Body-Mass-Index, guter Nahrungsqualität, einem kleinen Bauchumfang und niedrigen Blutzuckerwerten. Doch gerade die wissenschaftliche Literatur ist es, die Knop ärgert. Bei der Recherche für sein Buch hat er 300 Studien analysiert. Fazit: Es gibt viele Vermutungen, aber keine Beweise. Besonders Beobachtungsstudien kritisiert er. Dabei werden Probanden etwa aufgefordert, ein Ernährungstagebuch zu führen. Jahre später erfasst man, wer mit welchem Essverhalten wie alt geworden ist. Das verleite oft zu voreiligen Schlüssen. "Es ist anmaßend zu sagen: Dieser einzelne Stoff führt dazu, dass der Mensch länger lebt." Es gibt ja auch Gene und ein soziales Leben. Wenn Leute, die schwarze Socken tragen, lange leben, rate man ja auch nicht generell zum Tragen schwarzer Socken.

Dass Ernährungsstudien meist keinen Beweis von Ursache und Wirkung vorlegen können, bestätigt Thomas Ellrott. Anders seien diese Studien aber kaum möglich - und sinnlos seien sie schon gar nicht. Es gebe ein universelles Wissen über Ernährung und Krankheit - daraus ließen sich Empfehlungen zur Ernährung ableiten. Die heißen: Vollkornprodukte, Gemüse und Obst, mehr pflanzliche als tierische Fette sowie Mäßigung bei Fleisch und Alkohol. Und vor allem körperliche Aktivität. Diese Empfehlungen kommen auch aus Studien. Uwe Knop wird dennoch seinen kritischen Blick behalten. Er weiß aber auch, dass er bei aller Kritik für seine eigenen Ideen auch keine Beweise vorlegen kann.

Wie auch immer es nun genau um den Zusammenhang von Hunger und Essen steht - letztendlich entscheidet jeder selbst, wann er zugreift. Und wonach er greift.