Das Gefühl vieler Kassenpatienten, erheblich länger auf Facharzttermine warten zu müssen als Privatversicherte, trügt sie nicht: „Die Diskrepanz der Wartezeiten zwischen Patienten der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung (PKV) ist nach wie vor hoch“, sagte der Vorstandsvorsitzende der AOK Rheinland/Hamburg Günter Wältermann der Berliner Morgenpost. Es gebe eine klare Benachteiligung von GKV-Patienten gegenüber PKV-Patienten.
Eine aktuelle Stichprobe der Berliner Morgenpost bei Fachärzten in Berlin, Hamburg und München bestätigt diese Einschätzung. Bei Orthopäden bekamen die gesetzlich Versicherten vier Wochen später einen Termin als die Privatversicherten. Bei Hautärzten mussten die gesetzlich Versicherten sogar sechs bis acht Wochen länger warten. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen in diesem Jahr auch Umfragen der Grünen in Brandenburg und Niedersachsen, bei denen rund 600 Arztpraxen abtelefoniert wurden. Im Durchschnitt mussten die GKV-Patienten 24 Tage länger als die PKV-Patienten warten. Immerhin: In jeder dritten Praxis war der Versichertenstatus bei der Terminvergabe unerheblich.
70 Tage Wartezeit bei Kardiologen
Die AOK Rheinland/Hamburg hatte vor zwei Jahren in einer Untersuchung deutliche Unterschiede in den Wartezeiten festgestellt. Verschiedene Fachärzte wurden dabei einmal als Privatversicherter und einmal als gesetzlich Versicherter um einen Termin angefragt. Das Ergebnis: Lag die Wartezeit bei einem Privatversicherten für einen Termin beim Augenarzt im Schnitt bei 15 Tagen, so waren es für den gesetzlich Versicherten 37 Tage, 22 Tage mehr. Beim Orthopäden musste der gesetzlich Versicherte 22 Tage auf einen Termin warten, der Privatversicherte nur 6 Tage. Am größten war die Diskrepanz beim Kardiologen. Der gesetzlich Versicherte musste 70 Tage warten, der Privatversicherte 19 Tage. Mehr als 670 Telefonate hatte die Kasse für diese Untersuchung geführt: „Das Problem ist bisher nicht kleiner geworden“, so Wältermann.
Als Beleg für die anhaltende Ungleichbehandlung nannte der AOK-Chef auch das hohe Interesse am Arztterminservice seiner Krankenkasse. Die AOK Rheinland/Hamburg bietet ihren Versicherten einen Service: Sie vereinbart innerhalb von drei Tagen einen schnellen Facharzttermin. Jeden Monat nutzen diesen Service 1400 Kunden. „Einen abnehmenden Bedarf können wir nicht feststellen“, so Wältermann. Wältermann sieht die Ärzteschaft in der Pflicht. Er verwies auf den Honoraranstieg der Ärzte in diesem Jahr um 5,3 Prozent. „Dadurch ist die Bringschuld der Ärzteschaft gewachsen, Patienten zeitnah fachärztlich zu versorgen.“
Experten führen die Unterschiede bei den Wartezeiten auf die Unterschiede in der Honorierung von privat- und gesetzlich Versicherten zurück. „Privatpatienten sind für Ärzte lukrativer und bekommen schneller einen Termin“, sagt Susanne Mauersberg vom Bundesverband der Verbraucherzentralen (VZBV). Aktuell können Ärzte für privat Versicherte deutlich höhere Honorare berechnen. Dies führe auch im Niederlassungsverhalten zu Fehlanreizen, klagt die Verbraucherschützerin. Junge Ärzte lassen sich lieber in Städten nieder, wo es mehr Privatpatienten gibt, als auf dem Land. Wer das Problem der Wartezeiten lösen wolle, müsse daher letztlich für eine gemeinsame Honorarordnung sorgen, sagt Mauersberg.
AOK-Chef Wältermann sieht auch die Politik gefordert, die Benachteiligung von GKV-Versicherten gegenüber PKV-Versicherten bei der Terminvergabe und den Wartezeiten abzuschaffen. So könnte etwa per Gesetz konkretisiert werden, welche Wartezeit den Patienten zuzumuten sei.
Das Sozialgesetzbuch sieht vor, dass zum Auftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen „auch die angemessene und zeitnahe Zurverfügungstellung der fachärztlichen Versorgung“ gehört. Was „zeitnah“ bedeutet, findet sich im Gesetz freilich nicht.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) kann im Unterschied zu den Krankenkassen kein Wartezeiten-Problem erkennen. „Zwei Drittel der Patienten erhalten entweder sofort oder nur mit einer Wartezeit von weniger als drei Tagen einen Termin“, sagt KBV-Chef Andreas Köhler. „Das ist ein sehr guter Wert, der im Übrigen dafür spricht, dass die meisten Praxen keine Unterschiede machen.“ Doch auch Köhler muss einräumen: „Unsere Versichertenbefragung hat gezeigt, dass von Wartezeiten, die länger als drei Wochen dauern, eher gesetzlich Krankenversicherte betroffen sind.“ Das müsse hinterfragt werden. „Wir können aber objektiv nicht feststellen, dass Privatversicherte bei der Terminvergabe bevorzugt werden.“ Dem widersprächen die außerordentlich hohen Zufriedenheitswerte der Patienten mit ihren niedergelassenen Ärzten, fügte Köhler hinzu.