Herzklappen, Hüftgelenke, Augenlinsen und Brustkissen – jeden Tag implantieren Chirurgen in Deutschland tausende Medizinprodukte. Ohne sie könnten die Patienten in vielen Fällen nicht überleben oder litten starke Schmerzen. Implantate, die verschlissenes, entzündetes, oder abgestorbenes Gewebe ersetzen, sind ein Segen für viele Menschen. Doch Medizinprodukte können auch ein Fluch sein. Nicht zuletzt die Skandale um schadhafte Hüftgelenkimplantate und mit Industriesilikon hergestellte Brustkissen haben das gezeigt. Vor wenigen Wochen nun hat der Gesundheitsausschuss des Europäischen Parlamentes endlich gehandelt. Er hat in seinem Bericht neue Regeln vorgestellt, die für mehr Sicherheit bei Medizinprodukten sorgen sollen. In der kommenden Woche will das Europäische Parlament darüber entscheiden. Dagmar Roth-Behrendt (SPD), die im EU-Gesundheitsausschuss für den Bericht zuständig ist, sagte: „Die Sicherheit der Patienten in Europa wird deutlich gestärkt.“
Schärfere Kontrollen
Nach den neuen Regeln sollen Medizinprodukte künftig schärfer und auch unangekündigt überprüft werden. Mitarbeiter der prüfenden Institute sollen besser geschult werden. Doch viele Mediziner sind von der neuen Regelung enttäuscht. Im Sinne der Patientensicherheit wäre es ihrer Meinung nach sinnvoller, dass die Produkte von staatlicher Seite geprüft und zugelassen werden müssten. Nur so könne notwendige Unabhängigkeit und Transparenz hergestellt werden.
Es geht um Herzschrittmacher, Verbände, Brillen, ärztliche Instrumente, Kanülen, Schläuche und vieles mehr. Grob gesagt sind Medizinprodukte physikalisch wirkende Instrumente und Geräte, die die Patienten gesund machen sollen, ohne in ihren Stoffwechsel einzugreifen. Alle diese Produkte müssen zugelassen werden.
Um ein neues Herzschrittmachermodell zuzulassen, wird es nach Angaben des Bundesverbandes Medizintechnologie fast 40.000 Stunden geprüft, die technische Dokumentation umfasst etwa sieben Aktenordner. Die Zulassungskosten für diese Prüfung trägt der Hersteller des Produktes. Ist die Prüfung erfolgreich, bekommt ein Produkt die CE-Kennzeichnung, dann kann es für den Markt zugelassen werden – und wird im folgenden, je nach Risikoklasse, überprüft. Im vergangenen Jahr haben nach Auskunft des am Bundesgesundheitsministerium angesiedelten Deutschen Instituts für medizinische Dokumentation und Information 6777 Produkte eine CE-Kennzeichnung erhalten.
Wie wichtig Medizinprodukte für den Innovationsstandort Deutschland sind, zeigen weiter Zahlen. Die vor allem mittelständischen Unternehmen der Branche hatten 2012 einen Umsatz von etwa 22 Milliarden Euro, etwa 175.000 Menschen arbeiten in diesem Bereich. Damit steht Deutschland nach den USA und Japan, auf Platz drei, sowohl bei der Produktion als auch beim Absatz, so das Bundesgesundheitsministerium. Die Medizinprodukte-Branche läuft gut. Mit den neuen Vorschriften der EU ist sie aber nicht zufrieden. „Die EU-Verordnung ist wichtig, weil sie in allen europäischen Staaten direkt gilt“, sagt Joachim M. Schmitt, Geschäftsführer und Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Medizintechnologie. In Deutschland würde bereits gut gearbeitet und geprüft, nun müssten auch andere EU-Länder Qualitätsstandards besser einhalten.
„Trotzdem sind wir nicht ganz glücklich mit dem Bericht, der nun wohl kommende Woche durch das Europäische Parlament abgesegnet werden wird. Extra eingesetzte Expertengremien sollen demnach, wenn die Hersteller alle Prüfungen abgeschlossen und die Unterlagen bei den Zulassungsstellen liegen, ebenfalls auf diese Unterlagen sehen“, erklärt Schmitt. Eine zusätzliche Prüfung, die die Hersteller Zeit und damit auch Geld kosten kann. „Wir fänden es wesentlich sinnvoller, wenn ein solches Gremium früher in die Herstellungs- und Prüfprozesse eingebunden würde – ansonsten könnte es zu einer Zulassungsverzögerung von zwei bis drei Jahren kommen.“
Was die Hersteller ärgert, geht Patientenrechtlern und Medizinern nicht weit genug. Edmund Neugebauer, der an der Fakultät für Gesundheit der Universität Witten/Herdecke den Lehrstuhl für Chirurgische Forschung inne hat, kritisiert: „In der neuen Verordnung ist man den wesentlichen Schritt nicht gegangen.“ Unter Neugebauers Federführung hatte das European Clinical Research Infrastructures Network, ein Netzwerk zur Förderung klinischer Studien, im vergangenen März eine Petition an die EU eingereicht. Darin forderten Wissenschaftler, die auch von anderen wichtigen Institutionen und Experten aus ganz Europa unterstützt wurden, unter anderem, dass Medizinprodukte mit mittlerem und hohem Risiko (Klasse 2 und 3) von einer zentralen, unabhängigen Stelle geprüft werden sollten.
„Die Verabschiedung der neuen Verordnung im Europäischen Parlament steigert die Sicherheit für die Patienten nicht wirklich“, sagt Neugebauer. „Die rund 80 Stellen, die letztlich das CE-Siegel für die Produkte vergeben, können so nicht überwacht werden. Da helfen auch strengere, unangemeldete Kontrollen und bessere Schulungen der Mitarbeiter nicht viel. Wir haben uns dafür ausgesprochen, dass Medizinprodukte wie Hüft- oder Kniegelenke, Herzschrittmacher oder Herzklappen ähnlich wie Arzneimittel bewertet werden sollten.“
Einen Medizinskandal wie den der mit Industriesilikon hergestellten Brustimplantate wird auch eine noch so strenge EU-Verordnung nicht verhindern können. Da immerhin sind sich Neugebauer und Schmitt einig. „Kriminelle Machenschaften wird es immer geben“, sagt Neugebauer. Einen Skandal, der 40.000 Patienten mit künstlichen Hüftgelenken betrifft aber könnte man besser vorbeugen. In der EU werden jährlich tausende neue Medizinprodukte zugelassen. Das neue Prüfsystem wird sie zwar ein wenig sicherer machen. Sicher aber werden sie dadurch wohl nicht.