Überschuss – für die Sozialversicherungen war dies lange Zeit ein Fremdwort. Regelmäßig überstiegen in der Kranken-, Renten- und auch Arbeitslosenversicherung die Einnahmen die Ausgaben, mussten die Beiträge erhöht und der Staat einspringen, um das Defizit zu decken. Doch diese Zeiten sind vorbei. Im ersten Halbjahr erzielten die Sozialversicherungen einen Überschuss von fast fünf Milliarden Euro, noch einmal eine Milliarde mehr als noch vor einem Jahr. Doch mit den wachsenden Überschüssen wachsen auch die Begehrlichkeiten der Politiker und Lobbygruppen.
Vor allem auf die Krankenversicherung richten sich die begehrlichen Blicke. Nach der jüngsten Schätzung dürfte der Gesundheitsfonds, aus dem die Kassen finanziert werden, Ende nächsten Jahres Reserven von 14 Milliarden Euro angehäuft haben. In dieser Schätzung sind die Milliardenüberschüsse bei den einzelnen Krankenkassen noch nicht einmal enthalten. Die neuen Zahlen des Schätzerkreises entfachten sofort eine Debatte, wie die Reserven denn am besten genutzt werden können.
Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) bekräftigte seine Forderung nach einer Abschaffung der ungeliebten Praxisgebühr. „Jetzt, wo wir die gute Finanzlage haben, können wir uns diesen Verzicht leisten.“ Ein Verzicht auf die Praxisgebühr sei einer kleinen Beitragssatzsenkung „deutlich überlegen“, betonte der Minister. Die Sorgen der Union, eine Streichung sei nicht finanzierbar, sei aufgrund der derzeit guten Finanzlage „eigentlich nicht mehr berechtigt“. Bahr kündigte an, die Abschaffung der Praxisgebühr werde Thema beim nächsten Treffen des Koalitionsausschusses. Die Opposition muss Bahr nicht mehr von seinen Plänen überzeugen. Die grüne Gesundheitspolitikerin Biggi Bender nennt eine Abschaffung der Praxisgebühr nur „konsequent“: „Wie erfreulich müssen die Prognosen noch werden, bis die Bundesregierung nun endlich auch den Patienten ein Stück vom Kuchen abgibt?“ Die Kassen müssten wieder das Recht bekommen, die Beiträge selbst zu bestimmen, fordert die grüne Politikerin - „sie gehen dann runter“.
Eine erste Kasse geht ganz im Sinne Bahrs schon einmal voran. Die KKH-Allianz will ihren 1, 8 Millionen Versicherten ab 2013 die Praxisgebühr erstatten. Bedingung ist dabei jedoch, dass die Versicherten „gesundheitsbewusstes Verhalten“ nachweisen, die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen etwa oder die Mitgliedschaft im Sportverein. Die Lobbygruppen im Gesundheitswesen würden die überschüssigen Milliarden der Beitragszahler dagegen naturgemäß lieber in ihre eigenen Kassen leiten. Die Pharmaindustrie forderte ein Ende der Zwangsrabatte und des Preisstopps bei Arzneimitteln, die der Gesundheitsminister verordnet hatte, um Milliardenlöcher im Gesundheitssystem zu stopfen. Die Krankenhäuser warnten gar vor einer „drohenden Finanzierungskatstrophe“ und auch die Apotheker meldeten sich mit Geldforderungen zu Wort.
Doch nicht nur die Milliarden in der gesetzlichen Krankenversicherung, auch die Reserven der Rentenversicherung entfachen Ausgabenfantasien. Im Gegensatz zur Krankenversicherung gibt es in der Rentenversicherung allerdings einen gesetzlichen Automatismus für Beitragssatzsenkungen. Sobald die Reserven eineinhalb Monatsausgaben übersteigen, muss der Beitrag gesenkt werden. Ab dem 1. Januar 2013 winkt den Beitragszahlern deshalb eine Senkung des Rentenbeitrag um 0,6 Prozentpunkte auf 19,0 Prozent - Arbeitnehmer und Arbeitgeber entlastet das um fünf Milliarden Euro im Jahr.