Keine Dax-Aktie liegt mehr über 100 Euro. Die Anleger sehen sich um ihr Geld gebracht. Der lange und anhaltende Kurssturz an den Börsen fordert immer mehr Opfer. Was liegt da näher, als in dieser Situation nach dem rettenden Eingreifen des Staates zu rufen.
Berlin - Die Situation erinnert ein wenig an den Atheisten, der das Ende nahen sieht und noch fromm wird. Auch die eingefleischtesten Vertreter eines freien Marktes unter den Börsianern fordern jetzt ein rettendes Eingreifen des Staates. Angesichts täglich neuer Tiefstände haben sie ihren Glauben an die Selbststeuerung der Börse verloren. «Man muss sich schon überlegen, ob wir es noch mit einem funktionierenden Markt zu tun haben», sagt Joachim Paech, Chefhändler von Julius Bär. «Jetzt kann nur noch Hilfe von außen die Vertrauenskrise beenden.»
Gestern stürzte der Dax in der Spitze weitere 3,4 Prozent in die Tiefe. Vom Jahreshoch im März hat er sich mittlerweile halbiert, vom Allzeithoch sogar fast 70 Prozent verloren. Das ist der größte Wertverlust seit der Weltwirtschaftskrise in den 30er-Jahren. Nur noch im größten deutschen Bärenmarkt aller Zeiten von Mai 1918 bis Februar 1920 wurde mit 92 Prozent noch mehr an Börsenkapital vernichtet. «Der Kurseinbruch wird von der Regierung fast vollständig ignoriert», beklagt Paech. «Hier geht es nicht darum, dass einige Leute verkaufen. Die Politik muss endlich aufwachen und dem Pessimismus der Anleger den Krieg erklären.» Fast schon beschwörend ergänzt Michael Hartnett von Merrill Lynch: «Die Börse ist das Herz des kapitalistischen Systems. Wenn das Kapital nicht mehr in die richtigen Bahnen des ökonomischen Körpers gelangt, kollabiert die Wirtschaft.»
Die Börsianer halten für die Regierung bereits einen umfangreichen Forderungskatalog bereit. So solle die Wirtschaft mit einer koordinierten Fiskal- und Geldpolitik wiederbelebt werden. Nur eine Kombination aus höheren Staatsausgaben und niedrigeren Zinsen könne die Abwärtsspirale an den Märkten stoppen. Die realen Zinsen müssten auf Null gesenkt werden. Gleichzeitig sollten die sieben führenden Industriestaaten am Devisenmarkt gegebenenfalls intervenieren, um einen Sturz des Dollar aufzuhalten.
Auch bei den Staatsausgaben gelte es Tabus zu brechen. So dürften die EU-Stabilitätskriterien nicht mehr sakrosankt sein. Vielmehr sollten die Regierungen die Ausgaben erhöhen, um eine Rezession zu vermeiden. «Lockert den Stabilitätspakt», schreibt Anthony Thomas, Ökonom bei Dresdner Kleinwort den Politikern ins Stammbuch. «Man muss anders denken, wenn man mit den Folgen einer geplatzten Spekulationsblase konfrontiert wird», ergänzt Dieter Wermuth, Chefvolkswirt der japanischen UFJ-Bank. Doch mit einer lockeren Ausgabepolitik ist es nach Meinung von Börsianern längst nicht getan. Die Regierungen auch in der Pflicht, an Unternehmen Kredite zu geben, um Massenpleiten zu verhindern. Denn der Börsencrash habe die privaten Kreditinstitute in eine Krise gestürzt. Die meisten Banken hielten sich mit Ausleihungen zurück. «Der Staat muss in die Bresche springen», sagt Wermuth. Paech fordert gar Hilfen für die notleidende Institute. hz