Zwölf Stunden

Im Saal, der Wissen schafft

| Lesedauer: 7 Minuten
Leon Scherfig

Das Grimm-Zentrum ist ein Wahrzeichen akademischen Lebens in Berlin. Bis zu 7000 Studenten sind dort täglich den Gedanken von Forschern, Philosophen und Dichtern auf der Spur

09:00 Camilla Boden eilt durch das Foyer der Bibliothek. Die 29 Jahre alte Studentin zieht ein Buch mit dem Titel "Römischer Kaiserkult" aus der Handtasche und stoppt zielbewusst an einem grauen Automaten. Grünes Licht tastet über die Buchinnenseite. Der Rückgabeautomat schluckt das Buch. Zuvor hat er es identifiziert: Signatur 92/A/17331. Im Grimm-Zentrum, der größten Bibliothek der Humboldt-Universität, tritt diese Nummer nun eine Reise an. Die führt nicht nur durch die neun Stockwerke der gigantischen Buchbestände, sondern auch zurück ins Jahr 1812, in die Zeit der Gebrüder Grimm, die nicht grundlos Pate für den Namen des Baus stehen.

09:15 Die Studentin hastet durch die Drehtür ins Freie. Die Zeit drängt jetzt, denn das nächste Seminar beginnt. Ganz entspannt hingegen steht der Sicherheitsmann Danilo Klausner neben den Detektoren, die eine Grenze zwischen Foyer und Bibliotheksbereich bilden. Die Arme des Wachleiters sind verschränkt. Die blau-rot gestreifte Krawatte sitzt akkurat. "Wir kontrollieren das Gebäude und laufen Streife", sagt Klausner. Auf "Streife" überprüft der Sicherheitsdienst, dass die Studenten Plätze nicht mit ihren privaten Gegenständen besetzen wie Urlauber die Liegen am Strand. Allerdings dürfen Studenten die sogenannten Pausenscheiben nutzen. Sie sehe aus wie Parkscheiben, nur in rot. "Die Studenten sollten nicht länger als eine Stunde Pause machen", sagt Klausner. Bis zu 7000 Studenten besuchen das Ende 2009 eröffnete Grimm-Zentrum pro Tag im letzten Semester. Mit dem nun doppelten Jahrgang dürfte der Andrang noch steigen.

09:30 Das Buch mit der Signatur 92/A/17331 fährt mit exakt 0,17 Metern pro Sekunde auf dem schmalen Förderband. Es gleitet in eine der Kisten, die um Bettina Sundemann stehen. Jede Box reist auf dem Rollband weiter in unterschiedliche Stockwerke. Das Sortieren erfolgt mittels spezieller Identifikationsnummern. "Nicht zugeordnet" steht auf einer Kiste. Wo die Parameter der Technik nicht greifen, legt Sundemann selbst Hand an und bringt das Buch über das römische Kaiserreich auf den Weg in den sechsten Stock.

12:00 Drei- bis viermal wöchentlich steht im Grimm-Zentrum nicht Geschriebenes sondern Gesprochenes im Mittelpunkt: Dann debattieren, streiten, resümieren Experten auf dem Podium des Auditoriums. Den Grundstock dafür legen aber zwei andere Experten, die lange vor der Veranstaltung die Bühne betreten: Dieter Kynast und Hans-Joachim Kreowski. Das Hausmeister-Team. Kynast hebelt das Rednerpult aus der Bodenfassung. Bei jedem Ziehen und Rucken gerät seine Brille an einem Stoffband ins Schaukeln. Rund 100 Sitzplätze stuhlen die Hausmeister auf. Kynast ist kein Mann der vielen Worte, eher einer, der Ordnung schafft: "Zwei Sessel dort hin, dann die Couch, dann die drei Sessel." Das Reden überlässt er den Gästen. Sie sprechen später unter dem Motto "Vom Baum der Erkenntnis zum Social Network" über das moderne Miteinander in der Bibliothek.

13:05 Studentin Barbara Hendriks vertieft sich in ein sozialwissenschaftliches Buch. Es ist still. Trotz des riesigen Raums, der sich 20 Meter in die Höhe und 70 Meter in die Länge ausbreitet. Der Lesesaal, dessen Terrassen sich über fünf Ebenen erstrecken, ist das architektonische Markenzeichen des Hauses. Hier ist Platz für ganz neue Gedanken.

14:55 Eine der neuen Technologien nutzt gerade Fritz Schlüter. Der 33 Jahre alte Student der Informationswissenschaft schiebt den Rollwagen "StationHU9" durch die Büchergänge. Er versieht die Bestände mit sogenannten "Tags", ähnlich den Barcodes im Supermarkt. Damit werden zum Beispiel Autor, Titel, Signatur im Computersystem gespeichert. Bei rund 2,5 Million Büchern und noch Zeitschriften, Handschriften kommen eine Menge Daten zusammen. "Momentan läuft gerade ein Pilotprojekt", sagt Schlüter. Bücher sollen in Zukunft auch mit dem Smartphone entliehen werden könne. Mit einer Art Grimm-App.

16:20 Am Abend wird Andreas Degwitz auf dem Podium diskutieren. Im Moment sitzt der neue Direktor des Grimm-Zentrums noch in seinem Büro. Die große Fensterfront lädt zum Rundumblick aus der siebten Etage ein. Doch zu viele Dokumente liegen auf dem Schreibtisch, als dass er dazu Zeit fände. Er möchte in seinem Haus "neue Arbeitsszenarien" ermöglichen. 1000 Arbeitsplätze hat die ausgeklügelt-elegant gestaltete Bibliothek geschaffen. Neue Technologien sollen steigende Besucherzahlen bewältigen, sagt Degwitz. Unverzichtbar sei deshalb der Computer- und Medienservice (CMS) der Humboldt Universität, der sich auch im Grimm-Zentrum befindet. Der CMS versorgt die Computerarbeitsplätze der ganzen Universität und ist erste Anlaufstelle, wenn es um IT-Fragen geht.

17:00 Band 92/A/17331 fährt Alissa Blinow auf dem Rollband im sechsten Stock entgegen. "Pro Tag haben wir rund 3400 Buchrückgaben", sagt die Studentin. Sie greift das Kaiserkult-Buch und stellt es auf einen Bücherwagen, den sie gleich zum Einsortieren zu den Regalen schiebt. Eine Stunde braucht sie für einen Wagen. Alissa Blinow arbeitet wie rund 70 weitere junge Leute als studentische Hilfskraft im Grimm-Zentrum.

18:00 Die Märchenkiste der Bibliothek darf Elke Peschke betreten. An der schweren Tür, die in den abgesicherten Raum der Sondersammlung führt, hängt ein gelbes Schild mit einem Warn-Symbol: "KD-1230 Löschanlage" steht darauf. "Wenn es hier brennt, löscht die Anlage nicht mit Wasser, sondern mit Sauerstoffentzug", sagt Peschke, während sich die massive Tür schließt. Konstant 18 Grad beträgt die Raumtemperatur, die Luftfeuchtigkeit hält sich bei 60 Prozent. Das Klima ist bücherfreundlich. So wie Elke Peschke selbst, die auch schon über Grimms Bücher publiziert hat. Sie nimmt einen von rund 20 000 Bänden aus dem Regal, streicht behutsam darüber. In dieser Privatbibliothek der Brüder Grimm ist fast jedes Exemplar ein Unikat, gefüllt mit handschriftlichen Notizen. Insgesamt verfügt das Grimm-Zentrum über rund 130 000 Stücke sehr alter oder seltener Literatur, sogenannte "Rara". Wer das alte Papier riecht, es durchblättert, den feinen Schriftzügen folgt, ahnt, dass es sich hier um ein bedeutsames Kapitel der deutschen Sprachgeschichte handelt.

19:30 Stimmengewirr füllt das Auditorium, die Gäste haben kurz vor der Veranstaltung sämtliche Stühle besetzt. Einige knistern mit Zeitungen, andere tippen lautlos auf ihren iPads. Dort, wo vorhin noch die Hausmeister arbeiteten, sitzen jetzt Direktor Degwitz und sein Kollege Peter Schirmbacher, der den Computer- und Medienservice leitet. Mit Experten diskutieren sie über soziale Netzwerke, Digitalisierung von Büchern und neue Lesegeräte. Es geht um die Bedeutung der Worte. Dass diese mehr sind als nur Buchstaben, ob auf Papier oder Bildschirm, hatte auch schon Jacob Grimm im Sinn, als er 1851 in einem Aufsatz notierte: "Unsere Sprache ist auch unsere Geschichte."