Die Prozedur ist ähnlich wie vor einem Spiel. Mit dem Unterschied, dass sich die Umkleidekabine im Anatomietrakt der Charité Berlin und nicht in einer Sporthalle befindet und Martin Häner nicht das Trikot der Nationalmannschaft, sondern einen weißen Kittel überstreifen muss. Auch das Motto, mit dem Häner sein Medizinstudium bestreitet, ist irgendwie sportlich: Dabei sein ist alles. Was zählt ist, dass er endlich da ist.
Der 22-Jährige und seine Kommilitonen tragen zum Kittel Gummihandschuhe, es riecht nach Desinfektionsmittel. Die nächsten neunzig Minuten müssen die Studenten Röntgenbilder analysieren, verschiedene Teile der menschlichen Leber benennen und die Funktionsweise des Parasympathikus erläutern. Häner ist aufmerksam. Wenn die Tutorin ihn etwas fragt, weiß der Hockeynationalspieler die Antwort. Er kennt den Stoff schon ein bisschen: Im Sommer 2010 studierte Häner bereits Medizin an der Uni Würzburg.
"Ich wollte eigentlich von Anfang an an die Charité", erzählt der gebürtige Berliner. Mit seinem Abiturdurchschnitt von 1,6 verwies ihn die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) aber nach Unterfranken. Für Häner ein Dilemma: Um weiterhin für seinem Heimatverein Berliner HC in der ersten Liga antreten zu können, musste er wöchentlich tausend Kilometer pendeln. Erst ein halbes Jahr später konnte er nach Berlin wechseln, da nach einem Semester die Unis selbst und nicht mehr die ZVS über eine Aufnahme entscheiden.
Häner ist einer von über 1200 studierenden Spitzensportlern in Deutschland. In den neunziger Jahren galten Oliver Bierhoff oder Katja Seizinger für ihr Studium neben dem Sport als besonders vorbildlich. Mittlerweile ist es für viele Top-Athleten selbstverständlich, eine duale Karriere zu verfolgen. Gerade in Disziplinen, die kein finanzielles Polster für die Zukunft liefern. "Viele unserer Sportler sind auf eine akademische Ausbildung angewiesen", sagt Andreas Hülsen, Laufbahnberater vom Olympiastützpunkt in Berlin. Hülsen und seine beiden Kolleginnen betreuen 114 Kaderathleten A-C, die an Berliner Hochschulen immatrikuliert sind. "Wir versuchen den Sportlern ihr Wunschstudium in der Nähe eines Stützpunktes zu ermöglichen", sagt er. Das gehe nur mit individuellen Lösungen. "Wir wollen kein Studium light sondern ein Studium à la carte. Unsere Athleten sollen sich das Studium so zusammenstellen können, dass beides funktioniert", sagt Hülsen.
Im Fall von Martin Häner klappte es mit dem optimalen Studium, bei Mitspieler Felix Oldhafer weniger. Oldhafer studiert Medizin in Hannover und spielt für den UHC Hamburg. Drei bis vier Mal in der Woche verbringt er vier Stunden im Zug. "Ich würde so gerne nach Hamburg wechseln, aber es wird einem sehr schwer gemacht", sagt der 22-Jährige. Für Oldhafer bedeuten Sport und Studium Pendeln statt Party, Pauken statt Privatleben.
Der Fall der beiden Hockeyspieler zeigt, dass die duale Karriere mit vielen Schwierigkeiten verbunden ist. In der Gesellschaftswissenschaft wird das Phänomen als "Inklusionsproblem" bezeichnet: das Kollidieren der Teilbereiche Studium und Sport. Thorsten Schmitt - Bruder von Skispringer Martin - schlägt in seiner Bachelorarbeit "Vereinbarung von Hochleistungssport und Studium" als Lösung den Einsatz von entsprechendem Personal und eine Flexibilisierung der Studien- und Prüfungsordnung vor.
Doch gerade diese Flexibilisierung ist durch das 2002 eingeführte und sehr verschulte Bachelor-/Mastersystem erheblich eingeschränkt: Der Bologna-Prozess sieht Anwesenheitspflicht und kürzere Studienzeiten vor. "Unsere Spieler sind doch erwachsene Menschen und lernen den Stoff für die Prüfungen. Das mit der Anwesenheitspflicht kann ich nicht verstehen", sagt Reiner Nittel, Sportdirektor des Deutschen Hockeybundes. Nationaltrainer Markus Weise befürchtet gar, dass Deutschland wegen des neuen Systems bald nicht mehr mit der Weltspitze mithalten kann. In den letzten Jahren habe man die Lehrgangstage von 100 auf 80 pro Jahr reduzieren müssen. Als weiteres Problem sehen die Hockey-Verantwortlichen das föderalistische Bildungssystem: "Es gibt keine bundesweite Lösung. Durch die Freiheit der Lehre hat jedes Bundesland eigene Anforderungen", sagt Nittel. So kann Felix Oldhafer mit dem gleichen Abiturschnitt wie Martin Häner nicht in seiner Wunschstadt studieren, weil in Hamburg andere Aufnahmekriterien gelten als in Berlin.
Oft abhängig von den Professoren
Der Sport fordert einen Nachteilsausgleich für seine Athleten. Nur warum sollten Sportler mehr gefördert werden als Studenten, die nebenbei arbeiten müssen, um ihr Studium zu finanzieren? "Sport ist ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor und die wichtigste Quelle sozialen Kapitals in Deutschland", formuliert es Thorsten Schmitt. Auch Andreas Hülsen rechtfertigt das Engagement: "Spitzensportler sind im Bundesinteresse als positive Elite tätig und haben einen besonderen Auftrag als Botschafter Deutschlands."
Einige Hochschulen haben das erkannt und zeigen sich bereit, Athleten zu unterstützen. Seit 1999 sind über 80 eine Kooperation mit dem Allgemeinen Deutschen Hochschulsportverband (ADH) eingegangen und dürfen sich "Partnerhochschule des Spitzensports" nennen. Knapp 90 kooperieren mit den Olympiastützpunkten, acht davon in Berlin. "Für die Hochschulen ist das ein Marketinginstrument. Sie stehen im Konkurrenzkampf um gute Studenten", sagt Gert Wenzel von der Beuth Hochschule für Technik Berlin, an der unter anderem Britta Steffen und Jenny Wolf immatrikuliert sind. Eine Garantie für die optimale Vereinbarung sind die Kooperationen aber auch nicht.
So hängt das Schicksal der Sportler oft von der Kulanz ihrer Professoren ab. "Wenn ich fehle, wird das nicht immer toleriert. Viele meiner Dozenten sind nicht sportbegeistert", sagt Judoka Romy Tarangul, die an der HU Berlin auf Lehramt studiert und bis zu vier Stunden täglich trainiert. Obwohl die Hochschule mit über 80 Spitzensportlern die größte in Berlin ist, muss Tarangul teilweise "betteln", um Klausuren nachholen zu dürfen. Leichtathletin Meike Kröger musste ihr Training nach Beginn ihres Architekturstudiums an der TU Berlin zunächst zurückschrauben. "Am Anfang war meine Fakultät nicht sehr kooperativ", sagt sie. Seit der Kontakt zum Hochschulsport-Mentor des ADH hergestellt wurde, kann sie voll trainieren. "Als ich 2009 während der Klausurenphase zur EM nach Turin musste, durfte ich eine mündliche Prüfung als Ausgleich machen", sagt Kröger.
Vieles wird davon abhängen, wie sehr die Mitarbeiter der Hochschulen für das Thema noch sensibilisiert werden können. Martin Häner ist dennoch zufrieden, auch wenn die Hallen-WM jüngst in Polen für ihn ausfiel, wegen drei Klausuren. "Aber nur Hockey wäre auch langweilig", sagt er. Nach dem Studium will Häner dem Sport erhalten bleiben. Berufswunsch: Orthopäde.