In der Gruppe C sind die Verhältnisse klar geregelt. Russland und Norwegen werden durch die Vorrunde der Handball-EM spazieren, die heute beginnt. Als drittes Team, so die Experten, werden sich die Spanierinnen für die Hauptrunde des Championats in Dänemark qualifizieren. «Wir», sagt Christine Lindemann und meint die Deutschen, «werden in unserer Gruppe eindeutig als schlechteste Mannschaft eingestuft.»
Es gab Zeiten, da hätte sich die Nationaltorhüterin (141 Länderspiele) maßlos aufgeregt über solch abfällige Einschätzungen. Doch Lindemann erwähnt die trübe Expertenmeinung so beiläufig, als plaudere sie über den Wetterbericht.
Im Leben der 32-Jährigen haben sich die Prioritäten verschoben. Fünf deutsche Meisterschaften, ein Europacupgewinn, die WM-Bronzemedaille 1997 - das waren die Erfolgserlebnisse, die sie früher vor Freude überschnappen ließen. Heute ist sie bereits glücklich, «wenn die Sonne scheint und ich spazieren gehen kann, ohne völlig kaputt zu sein. Im Handball freue ich mich einfach nur über jedes Spiel, das ich noch machen kann». Jedes Spiel also ein Gewinn.
Die Genügsamkeit ist nachvollziehbar. Im Februar 2001 hatte Christine Lindemann ihren Rücktritt erklärt. Seit dem August des Vorjahres hatte sie eine rätselhafte Mattigkeit geplagt. Es begann mit Fieber, dann war sie ständig müde, das Training bei ihrem Klub Randers HK erlebte die Profispielerin nur noch wie in Hypnose. Das medizinische Fachpersonal des dänischen Erstligaklubs war ratlos. Erst eine Reise nach Köln brachte Gewissheit. Die ehemalige Nationalspielerin und heutige Ärztin Petra Platen stellte an der dortigen Uni-Klinik die Diagnose: Pfeiffersches Drüsenfieber.
Verursacher dieser Viruserkrankung ist das Epstein-Barr-Virus, das meist über den Speichel übertragen wird. Anzeichen sind geschwollene Lymphknoten, Hals- und Muskelschmerzen. Lindemann kann die Liste der Leiden aus dem Effeff herunterbeten. Schließlich hatten sich die Viren und Bakterien wegen des späten Befunds in ihrem Körper ausgebreitet wie ungebetene Gäste. Die 1,88 Meter große Blondine schleppte sich monatelang nur noch vom Bett zur Couch und zurück. «Es gab Zeiten», erinnert sie sich schaudernd, «da habe ich es nicht mal zum Briefkasten geschafft.»
Das Pfeiffersche Drüsenfieber plagt viele Spitzensportler. Ingo Schultz, der Europameister im 400-m-Lauf, die Surf-Olympiazweite Amelie Lux, Boxprofi Markus Beyer und Fußballprofi Markus Babbel gehören der prominenten Leidensgemeinde an. Mit Olaf Bodden, dem früheren Stürmer von 1860 München, telefonierte Lindemann in jener Zeit. Doch der konnte ihr nur sagen, dass er sich von seiner Krankheit nie richtig erholt hat.
Das blieb der Handballspielerin erspart. Dank ständiger Ruhe und der Heilpraktik ging es aufwärts. Im Februar gab sie in Randers ihr Comeback, vier Monate später reiste sie sogar zur Nationalmannschaft - aber nur als Torwarttrainerin. Erst als die Nummer eins, Silke Christiansen, verletzt ausfiel und ihre Stellvertreterinnen schwächelten, teilte Bundestrainer Ekke Hoffmann ihr vor dem Länderspiel gegen Polen im Hotelfahrstuhl mit: «Tine, du fängst heute an.» Sie glänzte wie ehedem, «obwohl ich überhaupt nicht trainiert hatte». Seitdem gehört sie wieder zum Nationalteam.
Hoffmann sagt: «Ich bin froh, dass sie bei der EM dabei ist, auch wenn sie nicht mehr das Potenzial von früher hat.» Wenn die Kolleginnen Doppelschichten absolvieren, muss Lindemann nur einmal am Tag trainieren. Vorsichtshalber. Sie weiß: «Es ist nicht mehr so wie früher.» Dennoch würde sie mit dem ersatzgeschwächten Team bei der EM gern mehr erreichen, als alle prophezeien. «Auf dem Papier ist das wohl nicht möglich», sagt sie, «aber auf dem Papier dürfte nach anderthalb Jahren Krankheit nix rauskommen - trotzdem hab ich super gehalten.»
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