Claudia Marx von der LG Nike ist die einzige Berliner Teilnehmerin an der EM, die eine reelle Medaillenchance hat, in der 4 x 400-m-Staffel. Wegen eines Unterkieferbruchs stand ihre Vorbereitung auf die Titelkämpfe allerdings unter keinem günstigen Stern.
Zehn Tage lang hatte Claudia Marx diesen Moment herbeigesehnt: endlich wieder kraftvoll zubeißen zu können. An die Speisefolge erinnert sich die 400-m-Läuferin von der LG Nike ganz genau: «Erst Schwarzbrot mit Käse - und dann Erdbeerkuchen.» Ihr Heißhunger war verständlich, denn während der zehn Tage hatte die 23-Jährige nur flüssige Nahrung zu sich nehmen können, nachdem sie sich am 23. Juni beim Leichtathletik-Europacup in Annecy (Frankreich) den Unterkiefer gebrochen hatte.
Im Staffelrennen über 4 x 400 m war es passiert. Als zweite Läuferin wollte sie den Staffelstab an Birgit Rockmeier übergeben, die jedoch zu spät loslief, Claudia Marx kam ins Straucheln und fiel ungebremst auf ihr Kinn - Unterkieferbruch. Vier Worte umschreiben das, was danach folgte: «Ich hatte ein Tief.»
Weil die 400-m-Läuferin, die bei der EM mit der Staffel sehr gute Medaillenchancen hat, diesen Traum erst einmal entschwinden sah. Würde es für die Berlinerin, die mit der Staffel 2001 Vizeweltmeisterin und über 400 m im April 2002 in der Halle Vizeeuropameisterin wurde, eine Fortsetzung einer langen Pechsträne geben?
«Öfter mal was Neues», so habe der Kommentar ihrer Mutter gelautet, erzählt Marx. Vor vier Jahren, nach einem schweren Autounfall, schien ihre Karriere schon beendet zu sein, doch sie kämpfte sich wieder heran, um die Olympischen Spiele 2000 wegen eines Knorpelschadens zu verpassen. Im Finale der Hallen-EM 2001 in Gent wurde sie von der Bahn gerempelt. Und jetzt das.
Ober- und Unterkiefer mussten miteinander verdrahtet werden. Sie ernährte sich von «Suppen mit viel Kalorien», vorzugsweise Hühnerbrühe von der Mutter ihres Freundes. «Bei einer Grillparty haben alle ordentlich gemampft - und ich saß daneben mit Babybrei.»
Zum Schluss «hätte ich mir den Draht am liebsten selbst rausgerissen», erklärt sie. An geregeltes Training war nicht zu denken. «Ich konnte ja nicht richtig atmen und nur ein bisschen Krafttraining machen.» Eine denkbar schlechte Vorbereitung für die EM, ihre Teilnahme an der Deutschen Meisterschaft in Wattenscheid musste sie absagen.
Doch nachdem sie von den Drähten befreit war - während der Zeit nahm die schlanke Blondine zwei Kilogramm ab - , wurde doch noch alles gut. Die Qualifikationsnorm für die EM hatte sie über ihren Junioren-Bonus schon Anfang Juni geschafft. Doch nachdem sie bei den nationalen Meisterschaften gefehlt hatte, verlangte der Deutsche Leichtathletik-Verband beim Sportfest in Leverkusen am 28. Juli von Claudia Marx noch einen Leistungsnachweis, den sie dann auch erbrachte. Die Berlinerin lief 52,34 Sekunden, war damit einigermaßen zufrieden («Es war kein Wunder, dass es noch nicht rund lief») - und ist jetzt bei der EM dabei.
Dass die für heute geplanten 400-m-Vorläufe abgesagt wurden, gefällt ihr gar nicht: «Jetzt fehlt wir ein Wettkampfrennen.» Morgen startet sie dann in einem Halbfinallauf, das Erreichen des Endlaufes scheint unrealistisch. Aber der Fokus liegt sowieso auf der Staffel am kommenden Sonntag. Sogar der EM-Titel ist möglich: «Es ist sehr gut, dass Grit Breuer wieder fit ist, die zieht uns mit.» Und beim Abschlussbankett würde Claudia Marx dann richtig reinhauen. Es muss nicht unbedingt Käsebrot sein.