Kindliche Kämpferin

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Jörg Allmeroth

Sie ist kleiner und zierlicher als viele Ballmädchen, die den Stars zwei Wochen lang in Wimbledon assistieren. Doch wenn die Kleinste unter den Großen im Damentennis erst einmal loslegt, geht auch ein Jahr nach ihrem Sturm in die Weltspitze noch ein Raunen durchs Publikum: «Sie ist ein Phänomen», sagt Martina Navratilova, die neunmalige All-England-Siegerin, über die Belgierin Justine Henin.

In 167 Zentimetern vom Kopf bis zu den Füßen stecken so viel Power und Willensstärke, dass die meisten Konkurrentinnen kapitulieren müssen vor der grazilen Frau aus Wallonien. Weit gebracht hat es die kindliche Fighterin auch in diesem Jahr wieder. Nach einem fulminanten 7:5, 7:6 (7:4)-Sieg über Monica Seles ist im Halbfinale die Neuauflage des letztjährigen Endspiels gegen Venus Williams perfekt: «Venus kann kommen. Ich bin bereit», sagt die immer couragierte Henin vor dem Duell mit der Siegerin der beiden letzten Jahre.

Mit Blutblasen an den Füßen hatte Henin am 8. Juli 2001 unglücklich 3:6, 6:1 und 0:6 gegen Williams verloren, aber Hochachtung gewonnen. Ganz Belgien wird in jedem Fall mit seinem kleinen, großen Superstar mitfiebern - so wie vor zwölf Monaten. «Damals waren die Straßen und die Geschäfte wie leergefegt», erinnert sich Yves Freson, der Präsident des belgischen Tennisverbandes, «jeder hat vor dem Fernseher gehockt.» Das Finale zwischen Henin und Williams erreichte die zweithöchste Sport-Einschaltquote in der Geschichte des belgischen Fernsehens, nur übertroffen von einem Fußballmatch bei der WM 1986 zwischen Belgien und Russland.

Im Sommer stürmten Kinder, inspiriert vom Gastspiel Henins in Wimbledon, die Tennisvereine. Sportgeschäfte meldeten Rekordverkäufe von Schlägern und Tennis-Bekleidung - ein Boom wie einst in Becker-Zeiten in Deutschland. Später erhielt Henin wie ihre Freundin und Weggefährtin Kim Clijsters aus den Händen von König Albert II den Nationalen Sportorden, die höchste Sportlerauszeichnung des kleinen Benelux-Staates.

Das Erreichen des Endspiels 2001 sei aber nur die erste Etappe gewesen, sagt Henin, «der Sieg in Wimbledon ist der nächste Schritt - früher oder später». Der ganz große Paukenschlag kommt vielleicht schon in diesem Jahr für die «unheimlich zähe Fighterin» (Stefanie Graf), die nichts mehr liebt als den Wettkampf. «Sie hat das Potenzial, um Venus zu stürzen», meint Altmeister John McEnroe über die mädchenhafte Belgierin, in deren klare und wunderbare Rückhand er sich regelrecht verliebt hat: «Das ist das Beste, was es im Tennis gibt. Bei den Herren und Damen.»

Mit Hilfe ihres Trainers Carlos Rodriguez und ihres Freundes Pierre-Yves Ardenne hat sich Henin auch eine größere Gelassenheit antrainiert. «Früher bin ich oft wütend geworden, wenn etwas nicht nach meinen Wünschen lief», sagt die 22-Jährige, «aber in letzter Zeit habe ich gelernt, bestimmte Dinge entspannter zu sehen.»

Inzwischen gehört sie wie selbstverständlich zum Top-Ten-Establishment - eine, die überall und gegen jede gewinnen kann. So wie bei den German Open in Berlin, bei ihrem bisher größten Sieg, als sie im Halbfinale Jennifer Capriati und im Endspiel Serena Williams schlug. «Ich weiß jetzt, dass ich zu den Besten gehöre. Und mit diesem Vertrauen geht alles viel leichter», sagt Henin, «meine stärkste Zeit wird ganz sicher noch kommen.»

Justine Henin

Mehr über die belgische Power-Frau auf ihrer Fanpage: www.henin.net