Es wird mehr und mehr ein Stück aus dem Reich Absurdistan, dieses Wimbledon 2002. Nach einer knappen Grand-Slam-Woche an der Church Road ruhen schon 20 von 32 gesetzten Spielern sanft auf einem einzigen großen «Friedhof der Champions», darunter alte Champions wie Andre Agassi und Pete Sampras und junge Wilde wie Marat Safin und Roger Federer.
Der Albtraum für Wettfreaks geht munter weiter in einem Tennisjahr, in dem keine Hierarchie mehr erkennbar ist: «Jeder schlägt jeden. Es geht zu wie im Golf», sagt US-Altmeister John McEnroe, der wochenlang den Schweizer Federer zum großen Turnierfavoriten gestempelt hatte. Auch BBC-Plaudertasche Boris Becker lag mit seinem konventionellen Sampras-Siegertipp schon völlig schief: «Es hat keinen Sinn mehr, irgendetwas vorherzusagen.»
Tatsächlich: Wenn schon Wimbledon nicht mehr Wimbledon ist, dieser Tennis-Fall für ausgewiesene Spezialisten, dann sind Prognosen ab sofort etwa nur noch so sicher wie fürs Wetter des nächsten Winters. Statt der üblichen Verdächtigen, der erklärten Rasen-Meister, tummeln sich auf einmal auch in London SW 19 die Neulinge und Nobodies der Szene, Spieler wie der Brasilianer Flavio Saretta, der Tscheche Radoslav Stepanek, der Spanier Feliciano Lopez, der Schweizer Michel Kratochvil.
Für Tony Roche, den ehemaligen australischen Davis-Cup-Chef, mutet die Besetzungsliste im Tennis-Heiligtum inzwischen an wie die eines «mittelprächtigen ATP-Wettbewerbs». In der gesamten oberen Auslosungshälfte sind mittlerweile mit Tim Henman und dem an eins gesetzten Australier Lleyton Hewitt nur zwei echte Spitzenkräfte verblieben, der große Rest topgesetzter Profis ist längst auf der Heimreise.
«Ob klein, groß, dick oder dünn - jeder auf der Tour kann heute erstklassiges Tennis spielen», sagte der Russe Marat Safin (1,93 Meter) nach seinem jähen Zweitrunden-Aus gegen den belgischen Zwerg Oliver Rochus (1,65 Meter). Tatsächlich nimmt die Ausgeglichenheit im modernen Männertennis gerade in dieser Saison dramatische Formen an: Bei den Australian Open triumphierte urplötzlich im Januar der blasse Schwede Thomas Johansson, und vor drei Wochen spielte sich bei den French Open der schon abgeschriebene Spanier Albert Costa auf den Thron des Sandplatz-Königs. Nun könnte selbst in Wimbledon, wo seit Jahren nur die bekannten Experten die Silberpokale empfangen, ein glücklicher Außenseiter seine Mission bis zum Happy End erfüllen. «Ausschließen würde ich überhaupt nichts mehr», sagte Englands Tim Henman, der sich am Donnerstagabend bei seiner Zweitrunden-Aufgabe extrem schwer tat mit dem kleinen Australier Scott Draper. Später gab Henman sogar unumwunden zu, er sei mit einem «Gefühl von Angst» auf den Centrecourt geschritten: «Der Abgang von Sampras, Safin und Agassi hat die Spitzenleute erschüttert.»
Zumindest bis gestern waren mit Henman, Hewitt und Halle-Sieger Kafelnikow nur noch drei Stars aus den Top Ten aktiv im All England Club. Der «Aufstand der Außenseiter» (The Guardian) wird allerdings selbst von der Führungsriege der Spielergewerkschaft ATP mit gemischten Gefühlen beobachtet: «Das ist eher ein Fluch als ein Segen», sagt ein Amerikaner aus dem «Board of Directors», «die Fans haben bald niemanden mehr, mit dem sie sich identifizieren können.»
Im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf mit der WTA-Tour liegt der unwägbare Männercircuit sowieso schon hinten: Zunehmend fließen Sponsorengelder ins Frauentennis, in dem die großen Namen wie Williams, Capriati oder Hingis meist bis zu den finalen Runden vertreten sind. Insider wie Boris Becker machen für zu viele Überraschungsergebnisse im Herrentennis nicht nur akute Umstände wie langsame Courts in Wimbledon verantwortlich, sondern auch den viel zu strapaziösen ATP-Turnierkalender: «Mit diesem Mammutprogramm macht man die Spitzenleute kaputt.»