Deutschland wird überraschen

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Thorsten Jungholt

Berlin - Anstoß. Heute beginnt die 17. Fußball-Weltmeisterschaft mit dem Match des Titelverteidigers Frankreich gegen Senegal (13.30 Uhr, live in der ARD). Und wenn es um die Top-Favoriten beim Championat in Asien geht, dann spielt die deutsche Mannschaft keine große Rolle. Nicht ganz für den dreifachen Wimbledonsieger Boris Becker - der Leimener traut dem Team von Rudi Völler durchaus eine positive Überraschung zu.

Immerhin, der Tennis-Star ist auch ein Fußball-Insider. Der 34-Jährige sitzt im Aufsichtsrat des FC Bayern München und deshalb auch oft auf der Tribüne bei den Matches des Rekordmeisters. Sowohl bei der EM 1996 in England als auch bei der WM 1998 in Frankreich war Becker als moralische Stütze zu Gast beim DFB-Team. Überdies verbinden ihn geschäftliche Manager-Bande mit Andrej Schewtschenko, dem ukrainischen Kickstar des AC Mailand. Im Interview äußert sich Boris Becker zu seinem persönlichen WM-Fieber.

Herr Becker, wo werden Sie die WM verfolgen: Auf der Couch, in der Kneipe oder live vor Ort?

Boris Becker: Leider habe ich in dieser Zeit eine Menge Geschäftstermine. Vor allem in der Endphase bin ich komplett in Wimbledon, als BBC-Kommentator und Times-Kolumnist. Aber Sie können davon ausgehen, dass ich keines der wichtigen Matches verpassen werde. Der Mittel-Sonntag von Wimbledon ist spielfrei. Das ist der Tag des Finales. Und falls die deutsche Mannschaft im Finale steht . . .

. . . .würden Sie allen Ernstes mal eben nach Yokohama jetten?

Warten wir die Vorrunde ab.

Das klingt skeptisch. Nach den Absagen von Scholl, Nowotny, Wörns, Deisler und Heinrich sind die Erwartungen an die DFB-Elf niedrig wie nie. Bei Ihnen also auch?

Auch mit diesen Spielern wäre Deutschland kein Top-Favorit. Natürlich sind die Absagen schlecht für das Team. Aber diese Spieler waren nicht bereit für die WM, aus welchen Gründen auch immer, also wären sie auch keine Hilfe gewesen. Die Spieler, die jetzt dabei sind, wollen diese WM, wollen für Deutschland spielen, übernehmen Verantwortung. Deshalb sehe ich nicht so schwarz. Rudis Team wird für Überraschungen sorgen.

Scholl hat ebenso wie Heinrich aus freien Stücken auf das Turnier verzichtet. Können Sie als ein Sportler, der wie kaum ein anderer für unbändigen Kampfgeist und Siegeswillen stand, solche Entscheidungen nachvollziehen?

Mehmet und ich sind befreundet, deswegen ist ein ehrliches Statement für mich schwierig. Als Sportler generell aber kann ich diese Entscheidungen nicht nachvollziehen. Es muss das Ziel sein, einmal eine WM zu spielen. Mich fragen sie schon im Ausland, ob unsere Spieler die Hosen voll haben, weil sie erst gar nicht zur WM fahren wollen. Das ist bedenklich.

Sie haben als 17-Jähriger zum ersten Mal Wimbledon gewonnen, naturgemäß als Außenseiter. Später waren Sie oft Favorit. Aus welcher Stellung heraus lässt sich ein großes Turnier leichter angehen?

Ich war immer gerne Favorit. Da ist das Ziel klar - nur der Sieg kommt infrage. Du schaltest nicht ab, bevor der Titel nicht gewonnen ist. Du lässt dich durch nichts ablenken. Als Außenseiter bist du mit einem guten Match zufrieden. Du lehnst dich zu früh zufrieden zurück.

Auf einen wie Oliver Kahn oder Jörg Böhme trifft das sicher nicht zu. Wie wichtig sind solche Persönlichkeiten, die Druck als Herausforderung empfinden?

Da muss man auch in einem Atemzug Michael Ballack nennen, oder Jens Jeremies, Sebastian Kehl, Dietmar Hamann. Die deutsche Mannschaft hat Siegertypen, echte Charaktere. Wenn Rudi Völler die richtigen zusammen klickt, können die wirklich was bewegen.

Die Leverkusener Spieler haben gerade drei Finals in Folge verloren. Wie haben Sie sich nach einem verlorenen Grand-Slam-Finale wieder aufgerichtet? Ist das auf die Leverkusener übertragbar?

Wenn die morgen in der Bundesliga gegen Stuttgart spielen müssten, würden sie kotzen. Die haben erst einmal die Schnauze voll. Aber eine WM ist was anderes. Das tut gut, ist eine Chance, sofort wieder ein wichtiges Spiel zu machen, um vor allem sich selber zu beweisen, dass es doch geht. Die Pleite von Leverkusen kann das Glück für Rudi sein.

Welche Tipps kann der ehemalige Davis-Cup-Teamchef Becker dem Fußball-Teamchef Völler geben?

Setz auf deine Leitwölfe, deine Führungsspieler. Jeder Spieler muss seine Rolle im System definiert bekommen, sich einordnen. Es muss eine klare Hierarchie geben - der Führungsspieler muss anders behandelt werden als der Ergänzungsspieler.

Sie haben einige Turniere in Asien gespielt. Wie waren Ihre Erfahrungen, auf was muss man als Sportler in der ungewohnten Umgebung besonders achten?

Spitzensportler gewöhnen sich sehr schnell an Klima- und Zeit-Unterschiede. Das ist kein Problem. Südkorea und Japan sind ein Vorteil für unser Team. Fernab der Heimat, in gänzlich fremden Kulturen, lenkst du dich weniger ab. Du bist wie in einem Kokon, nur mit dir und deinen Leuten beschäftigt. Das fördert den Teamgeist.

Welche Teams sind Ihre WM-Favoriten - und warum?

Also, Frankreich wird nicht Weltmeister! Auch wenn die Franzosen den besten und attraktivsten Fußball spielen. Ihr Problem: Sie haben nichts mehr zu beweisen, bestimmen seit sechs Jahren die Weltbühne des Fußballs. Da fehlt der Hunger. Den hat Argentinien. Das ganze Land kämpft derzeit ums Überleben - und der Fußball und die Nationalmannschaft sind der letzte Stolz. Argentinien hat eine Mission. Deshalb ist Argentinien mein Favorit. Auch Italien wird stark spielen, Nigeria und Kamerun. Für die Überraschung sorgt Deutschland. Zwar klingt es peinlich, aber einige unterschätzen uns.

Viele Fans verknüpfen mit einer WM auch Kindheitserinnerungen. Sie sind Jahrgang '67, welche WM haben Sie als erste bewusst wahrgenommen?

Die WM 1974 in Deutschland. Ich war sieben. Gerd Müller schießt uns zum Titel, die Regenschlacht gegen Polen - alles noch heute lebhafte Erinnerungen. Mein Held aber war Jürgen Sparwasser - sein Tor für die DDR in der 80. Minute gegen die BRD, unvergesslich.

Hat Klein-Boris damals auch Panini-Abziehbilder gesammelt?

Wie die damals hießen, weiß ich nicht. Aber ich habe alles gesammelt, was es gab.

Jeder kennt Sie als Anhänger und Verwaltungsrat-Mitglied des FC Bayern. Sind Sie eher Bayern- oder eher Fußball-Fan?

Zuerst Fußball-Fan, ich spiele auch nach wie vor sehr gern. Aber schon als Kind habe ich die großen Erfolge der Bayern im Fernsehen gesehen. Und als Kind bist du immer mit den Siegern. Später wurde dann persönliche Freundschaft daraus, zu Franz Beckenbauer und zu einigen Spielern.

Welche Rolle spielt die Nationalmannschaft für Sie - gerade auch vor dem Hintergrund der Patriotismus-Debatte?

Fan der Nationalmannschaft zu sein, ist die unverfängliche Möglichkeit, Patriot zu sein. Als Fan kann man einen Deutschland-Schal tragen, ohne gleich in die rechte Ecke gerückt zu werden. Weltweiter Terror, Rezession und Probleme allerorten haben die Menschen wieder empfänglich gemacht für traditionelle Werte. Muttersprache, Mutterland, Heimat spielen wieder eine viele größere Rolle als vor zehn Jahren. Die Menschen suchen nach Möglichkeiten, diese Gefühle unpolitisch auszudrücken. Und da bietet ihnen die Nationalmannschaft eine Plattform.

Hand aufs Herz, was ist wahrscheinlicher: Dass Deutschland die Weltmeisterschaft gewinnt, oder dass Stoiber Bundeskanzler wird?

Herr Stoiber hat die Vorrunde schon überstanden, der Rudi sein erstes Spiel noch vor sich.

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