Antisemitismus: Im Projekt „meet2respect“ lernen Schüler gemeinsam mit einem Rabbi und einem Imam Respekt vor Andersgläubigen
Die Stunde fängt damit an, dass viele Kinder staunen. Sie haben Rabbiner Daniel Alter für den angekündigten Imam gehalten und gar nicht bemerkt, dass Alter eine Kippa trägt. Wie sich herausstellt, wissen die meisten ohnehin nicht, dass dies die Kopfbedeckung der Juden ist. Rabbi Alter besucht an diesem Vormittag gemeinsam mit dem muslimischen Seelsorger Imran Sagir die Klasse 6d der Otto-Wels-Grundschule in Kreuzberg. Sagir hat indische Wurzeln. Er ist nicht nur Seelsorger, sondern leitet seit vielen Jahren auch Freitagsgebete und Festgebete in verschiedenen Berliner Moscheen.
Daniel Alter und Imran Sagir sind bei „meet2respect“ engagiert, einem Projekt des gemeinnützigen Vereins „Leadership Berlin – Netzwerk Verantwortung“. Geschäftsführer Bernhard Heider sagt, dass es bei „meet2respect“ darum geht, etwas gegen Antisemitismus unter türkisch- und arabischstämmigen Jugendlichen zu tun. „Wir bekommen immer wieder Anfragen von Schulen, in denen Lehrer davon berichten, dass muslimische Schüler sich abfällig über Juden äußern. Die Lehrer wollen dagegen etwas tun und bitten uns um Hilfe“, sagt Heider. Vor allem an Brennpunktschulen mit vielen Kindern nicht deutscher Herkunft gebe es häufig Konflikte unter den Schülern. Das gehe bis zu körperlicher Gewalt.
Mit 12 Jahren offen für Gespräche
In Berlin gibt es etwa 30 Grundschulen, an denen mehr als 80 Prozent der Schüler keine deutsche Herkunftssprache sprechen. „Auf diese Schulen konzentrieren wir uns“, sagt Heider. „Wir haben uns überlegt, dass es Sinn macht, Begegnungen zu organisieren und dies nicht mit dem Rabbiner allein, sondern am besten zusammen mit einem Imam.“ Der sei eine Respektsperson für die Kinder. Wenn sich der Imam gegen Antisemitismus ausspreche und darlege, dass sich Diskriminierung, Beleidigung oder gar Gewalt gegenüber Andersgläubigen nicht auf der Grundlage des Korans rechtfertigen lassen, habe das eine stärkere Wirkung, als wenn die Lehrer das tun.
Ziel der Begegnungen sei es, dass die Kinder erkennen, dass jemand, der Andersgläubige beleidigt oder Gewalt gegen sie ausübt, kein anständiger Muslim ist. Gerade Sechstklässler, die 12 oder 13 Jahre alt sind, seien für solche Erfahrungen offen und würden sich später in bestimmten Situationen daran erinnern. „Das ist wie eine Impfung“, sagt Heider.
In der Klasse 6d lernen fast nur türkische und einige deutsche aber keine arabischen Schüler. Von den 21 Kindern besuchen zehn den Islamunterricht. Zwei nehmen am alevitischen Religionsunterricht teil, vier Kinder belegen das Fach Lebenskunde. Klassenlehrer Steffen Sibler sagt, dass es kaum Streit wegen der Religion gibt. Auf dem Schulhof der Otto-Wels-Grundschule aber sind Beschimpfungen wie „Du Jude“ durchaus zu hören.
Die Schule an der Alexandrinenstraße liegt mitten im sozialen Brennpunkt. Die meisten Kinder haben einen Migrationshintergrund, viele kommen aus armen Familien. „Aufklärungsarbeit ist wichtig“, sagt Lehrer Steffen Sibler. Im Alter von 12 oder 13 Jahren käme bei vielen Schülern die Frage auf, welche Religion die „richtige“ sei. „Zu Hause hören sie oft, dass der in ihrer Familie praktizierte Glaube der richtige ist“, sagt Sibler. Viele Eltern würden verlangen, dass sich die Kinder streng an bestimmte Glaubensregeln halten. Nicht selten seien Vorurteile gegenüber anderen Religionen an der Tagesordnung.
Auch der Nahostkonflikt ist in dieser Altersgruppe ein Thema. „Diesbezüglich herrscht allerdings gefährliches Teilwissen“, sagt Sibler. Die Kinder bekämen zwar vieles aus dem Fernsehen mit, könnten damit aber nur wenig anfangen.
In der 6d herrscht Ruhe. Gespannt warten die Kinder ab, wie es nun weitergehen wird. Daniel Alter sagt, dass er ihnen gern etwas erzählen möchte. „Vor einiger Zeit bin ich wegen meines Glaubens von einigen Jugendlichen geschlagen worden“, sagt er. Es seien offensichtlich muslimische Jugendliche gewesen. Der Vorfall habe sich vor seiner Haustür abgespielt. Seine damals sieben Jahre alte Tochter sei dabei gewesen. „Das war eine schlimme Erfahrung. Ich habe gemerkt, dass ich meine eigenen Kinder nicht beschützen kann.“ Im Krankenhaus sei ihm klar geworden, dass er unbedingt etwas tun müsse, sagt Alter. „So etwas darf nicht noch einmal passieren. Auch euch darf das nicht passieren oder irgend einem anderen Kind auf der Welt.“
Zusammen mit Leuten muslimischen Glaubens besuche er nun Schulen, um mit den Kindern darüber zu reden, was man gegen Intoleranz und Gewalt tun kann, sagt Alter. Dann fragt er die Schüler, ob sie selbst schon einmal wegen ihres Glaubens beschimpft worden sind. Zunächst ist es still in der Klasse. Erst als Lehrer Sibler die Kinder zum Reden ermuntert, meldet sich ein Junge. Auf der Straße habe er gehört, wie sich ein Deutscher und ein Türke gestritten und als „Moslem“ und „Nazi“ beschimpft haben, sagt er.
Nun trauen sich auch die anderen. Sie berichten von ähnlichen Erlebnissen. Nicht wenige sind auch selbst schon wegen ihres Glaubens oder ihrer Herkunft beschimpft und bedroht worden. Ein Mädchen erzählt, dass Jugendliche sie auf der Straße gefragt haben, ob sie Christin sei. Sie habe geantwortet, dass sie keines Glaubens sei. Daraufhin hätten die Jugendlichen ihr gedroht. Entweder du glaubst an unseren Gott, oder wir schlagen dich, hätten sie gerufen. „Ich bin schnell weggerannt.“ Ein Junge sagt, dass sogar seine Eltern sich manchmal streiten. „Mein Vater ist Sunnit, meine Mutter Alevitin.“ Auch von Streitereien zwischen arabischen und türkischen Jugendlichen, die sie beobachtet haben, berichten die Kinder.
Klassenlehrer Steffen Sibler sagt später, dass es in seiner Klasse bei Konflikten zum Glück eher um Fußball als um Religion oder Herkunft der Kinder geht. „Die Schüler wissen, dass ich großen Wert darauf lege, dass niemand wegen seiner Religion diskriminiert und dass Streit gewaltfrei gelöst wird.“ Doch auch die weitgehend homogene Zusammensetzung der Klasse sei ein Grund dafür, dass es selten zu solchen Streitereien kommt.
Imran Sagir erklärt nach dem Treffen mit der 6d, dass sie in dieser Klasse vor allem Präventionsarbeit gemacht haben. Auch das sei wichtig. „Respektvolle Begegnungen, wie wir sie den Schülern zeigen, können Missverständnisse ausräumen und ein Anker für die Schüler sein, ein Erlebnis, an das sie sich gern erinnern.“
Doch zurück in den Klassenraum. Daniel Alter und Imran Sagir warten, bis alle Kinder zu Wort gekommen sind. Dann fragt Alter die Schüler, wie sie sich gefühlt haben, als sie wegen ihres Glaubens beleidigt worden sind. Einige sagen, dass sie traurig waren, andere erzählen, dass sie sauer oder aggressiv geworden sind. „Wenn jemand schlecht über meine Religion redet, würde ich am liebsten zuschlagen“, gesteht ein Junge. Ein anderer sagt, er wünsche sich, dass die Leute bestraft werden, wenn sie seine Religion beleidigen. Einige Kinder nicken. Dann sagt ein Junge: „Wir glauben doch alle an den gleichen Gott.“ Das bedeute, dass jemand seinen eigenen Gott beleidigen würde, wenn er den Gott eines anderen beleidigt. Ein Mädchen meldet sich: „Wenn jemand Gott beleidigt, sollte man weggehen, er bekommt seine Strafe von Gott.“
Viele Fragen haben die Kinder auch dazu, wie der muslimische Glauben praktiziert werden sollte. Wie oft sollte man beten, wollen sie wissen; sollte man sich vor dem Gebet immer waschen; sei es Pflicht, nach Mekka zu pilgern; von welchem Alter an sollte man wann fasten. Auch Beerdigungs- und Hochzeitsrituale werden besprochen. Ein muslimischer Junge fragt Imran Sagir ständig nach Details. „Das ist Spezialwissen“, antwortet der immer wieder. Andere Kinder wollen von Daniel Alter wissen, wie die Juden ihren Glauben praktizieren. Sie sind erstaunt darüber, dass es Gemeinsamkeiten zwischen Juden und Moslems gibt.
Projekt soll ausgebaut werden
Die Diskussion zeigt, dass viele Kinder sich bereits gut auskennen mit der muslimischen Religion und dass sie durchaus neugierig darauf sind, wie andere Religionen funktionieren. Deutlich wird auch, dass die Schüler der 6d ziemlich gut wissen, wie das geht, respektvoll miteinander umzugehen. Sie hören einander zu, lassen einander ausreden und versuchen, sachlich zu bleiben. Es ist deutlich zu spüren, dass ihnen das nicht immer leicht fällt.
Klassenlehrer Sibler ist zufrieden mit dem Verlauf der Begegnung. „Ihr habt gut mitgemacht und tolle Gedanken geäußert“, lobt er seine Schüler. Daniel Alter und Imran Sagir laden die Kinder schließlich ein, sie in der Synagoge und in der Moschee besuchen zu kommen. Zum Abschied schreiben sie „Friede sei mit Euch“ an das Smartboard. „Salem aleikum“ schreibt Imran Sagir und Daniel Alter schreibt „Schalom aleichem“. Die Kinder applaudieren.
Bernhard Heider will das Projekt „meet2respect“ unbedingt ausbauen. Viele Schulen haben großes Interesse, sagt er. „Es wäre gut, wenn wir jemanden anstellen könnten, der diese Begegnungen organisiert.“ Bisher werde alles ehrenamtlich gemacht. Im Januar wird es einen weiteren Termin geben. Ein Imam und ein Pfarrer werden Kinder einer Zehlendorfer Grundschule besuchen. „Bei diesem Treffen soll es darum gehen, die Kinder mit dem Islam bekannt zu machen“, sagt Heider. Es gebe unter deutschen Akademikern eine gewisse Islamfeindlichkeit. „Das liegt nicht zuletzt daran, dass diese Menschen kaum Kontakt zu Muslimen haben.“ Auch hier sei Aufklärung nötig.
Bisher haben die Leute von „meet2respect“ nur gute Erfahrungen gemacht. „Es ist ein Erfolg, wenn muslimische Eltern ihren Kindern erlauben, mit in die Synagoge zu gehen und die Kinder sich dort respektvoll verhalten“, sagt Heider.