Bundesregierung

Die Geschichte eines politischen Kuhhandels*

| Lesedauer: 8 Minuten
Robin Alexander, Thorsten Jungholt und Thomas Vitzthum

Koalitionsgipfel: Von Arztbesuch bis Zuschussrente – nach siebeneinhalb Stunden einigen sich CDU, CSU und FDP in den bisherigen Streitfragen

Am Anfang ging es um politische Wünsche, dann um viel Geld, und ganz am Ende, da ging es nur noch um Worte, manchmal um ein einziges Wort: „knapp“. Das fügt der Vizekanzler, FDP-Vorsitzende und Wirtschaftsminister Philipp Rösler kurz vor ein Uhr nachts am Montagmorgen in den Entwurf zu den Beschlüssen des Koalitionsvertrags ein. Kanzlerin Angela Merkel hat keine Einwände, und deshalb beschließt die christlich-liberale Koalition zu den Renten für Geringverdiener nicht: „Die Grenzen der Höherbewertung befinden sich dabei oberhalb der Grundsicherung“, sondern: „Die Grenzen der Höherbewertung befinden sich dabei KNAPP oberhalb der Grundsicherung.“ Ja, so kleinteilig geht es zu im Bündnis von CDU, CSU und FDP, zumindest in dieser langen Nacht im Kanzleramt. Im Koalitionsausschuss kurz nach dem Reformationstag erweisen sich nicht nur die Pastorentochter Angela Merkel, sondern auch die gläubigen Katholiken Rösler und der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer als geradezu protestantisch schrifttreu, ja schriftfixiert: Manches wird gleich zweimal formuliert, damit es ja nicht verloren geht. „Noch in dieser Legislaturperiode sollen konkrete Verbesserungen für eine Lebensleistungsrente geschaffen werden, die steuerfinanziert werden.“ So heißt es im Entwurf. Damit ist eigentlich schon eine unmissverständliche politische Entscheidung getroffen, doch Rösler geht im Text auf Nummer sicher: „… nicht beitrags-, sondern steuerfinanziert werden“. Als schlösse das eine nicht das andere aus. Aber Rösler ist nicht der Einzige, der Worte wägt wie Gold. Lange kursiert das Abschlusspapier, und am Ende ziert den Entwurf viel grüne Tinte, die Farbe der Entscheider in der Politik. Kleinteiligkeit und Vorsicht – sie prägen diesen Koalitionsausschuss. „Jeder Fehler, der heute gemacht wird, zählt doppelt und dreifach gegenüber dem, was wir in der Vergangenheit gemacht haben“, hat der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer die Runde kurz nach 18 Uhr düster eingestimmt, wie eine Fußballmannschaft, die im wichtigsten Spiel des Jahres vor allem hinten die Null halten soll. Und tatsächlich ist der Abend lange davon geprägt, Gegentore zu vermeiden: In den ersten drei Stunden entscheiden die Koalitionäre nur, ob sie Wasser mit oder ohne Kohlensäure trinken wollen. Alle drei Partner – CDU, CSU und FDP – tragen in langen Referaten vor, was ihnen zu den fünf Themen – Betreuungsgeld, Praxisgebühr, Rente, Haushalt und Verkehr – vorschwebt. Darüber wird es 21 Uhr. Erst dann beginnen die eigentlichen Verhandlungen. Die CSU will das Betreuungsgeld zuerst eintüten. Sie spricht davon, es „vor der Klammer“ zu verhandeln – als gehörte es eigentlich nicht wirklich dazu. Damit wollen die Bayern ihr Gesicht wahren. Denn am gleichen Ort, in gleicher Runde, vor fast genau einem Jahr wurde schon einmal über die umstrittenste familienpolitische Leistung in der Geschichte der Bundesrepublik gestritten. Damals gab die CSU für das Betreuungsgeld bei der Blue Card nach, also Zuwanderungsmöglichkeiten für Facharbeiter aus dem Ausland – und wurde von der FDP böse gelinkt. Denn mit der Blue Card arbeiten längst Forscher und Experten, während das Betreuungsgeld immer noch im parlamentarischen Prozess festhängt. Die CSU wird heute noch einmal bezahlen müssen, sie weiß es, die FDP wird – später am Abend – dafür die Abschaffung der Praxisgebühr erhalten, das ist zu diesem Zeitpunkt schon allen Beteiligten klar. Trotzdem quälen die Liberalen die CSU noch ein wenig und schlagen vor, das Betreuungsgeld erst am 1.Januar 2014 einzuführen – also nach der Bundestagswahl. Seehofer schmettert das ab und setzt im Gegenzug durch: Ab 1.August 2013 kommt es und wird – im parlamentarischen Hauruckverfahren – schon an diesem Freitag vom Bundestag beschlossen. Die FDP hat noch durchgesetzt, dass ein Bonus zum Betreuungsgeld in ein Bildungssparen investiert werden kann oder in eine private Rentenversicherung. Wichtiger ist aber, was in diesen Minuten gar nicht mehr angesprochen wird: Merkel und Seehofer versuchen nämlich gar nicht erst, Beschlüsse von CDU und CSU durchzusetzen, dass Frauen mehr Rente bekommen, die bis in die frühen 90er-Jahre ihre Kinder geboren haben. Die Wohltat für junge Frauen, das Betreuungsgeld, wird also doch nicht mit der Wohltat für die älteren Frauen bezahlt – das spart Milliarden. Den Prüfauftrag, der an die Bundesregierung immerhin noch ergeht, kann man schon jetzt vergessen. Diese Milliarden hätten auch die wichtigste Botschaft des Koalitionsausschusses zerstört: Es soll schneller einen ausgeglichenen Haushalt geben als bisher geplant. Schwarz-Gelb strebt ihn für 2014 an – also drei Jahre früher als bisher. Allerdings ist ein „strukturell ausgeglichener Haushalt“ gemeint. Das bedeutet: Einmalzahlungen, etwa für die Euro-Rettungsschirme oder unvorhergesehene Ausgaben, müssen nicht nachgespart werden. Die FDP hätte es gerne ohne diese Einschränkung gehabt, aber die CSU hielt dagegen und argumentierte mit ihrer Erfahrung in Bayern. Dort hatte Edmund Stoiber einen – echten – ausgeglichenen Haushalt erreicht und dafür anschließend einen hohen politischen Preis gezahlt. Zwischen den Generalsekretären von CDU und FDP kam es hier ebenfalls zur Diskussion. Mit Sparen könne man keine Wahlen gewinnen, soll Hermann Gröhe (CDU) argumentiert haben – wohl mit den jüngsten Erfahrungen von Norbert Röttgen in NRW im Kopf. Sein liberales Pendant Patrick Döring konterte mit den liberalen Erfolgen in NRW, Schleswig-Holstein und den Niederlanden, wo der Sparer Mark Rutte wiedergewählt wurde. Um 22 Uhr wurde die Runde unterbrochen. Es gab eine gute Stunde Pause, anschließend zogen sich die drei Parteichefs zusammen zurück. Danach berieten Union und FDP erst einmal getrennt. Dann tagte wieder das Spitzentrio; erst dann erneut die große Runde. Die Verhandlungen steckten in einer echten Krise. Wie diese gelöst wurde, darüber gehen die Erzählungen auseinander. Im Unionslager schildert man den entscheidenden Moment so: Kanzlerin Merkel habe im ernsten Ton die Runde gefragt: Bisher habe man Einigkeit nur beim Betreuungsgeld und der Haushaltskonsolidierung. Ob dies ausreiche, um nach einem solchen Abend an die Öffentlichkeit zu treten? Die Liberalen erinnern sich anders: Sie berichten, es sei Philipp Rösler gewesen, der überraschend angeboten habe: Beschließen wir doch nur die Konsolidierung und sonst gar nichts – das wäre doch eine gute Botschaft. Wie auch immer: Anschließend fand man dann doch zueinander, und das große Tauschgeschäft begann. Die FDP bekam die Abschaffung der Praxisgebühr. Die CSU das Betreuungsgeld. Die CDU die „Lebensleistungsrente“, mit der sich Merkel im Wahlkampf bei diesem Thema in Drachenblut baden will. Viel mehr kann auch die SPD nicht versprechen.

* Seit Mitte des 19. Jahrhunderts steht der Begriff Kuhhandel in der Politik für Tauschgeschäfte von Dingen, die politisch eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Die Bezeichnung geht zurück auf das Feilschen und Betrügen beim früheren Viehhandel: Listige Händler verkauften ihre Rinder und Pferde als jünger, kräftiger und damit teurer, als sie eigentlich waren.