Hurrikan „Sandy“

Sie nennen ihn „Frankenstorm“

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Ansgar Graw

„Sandy“ greift an. Ein Hurrikan von einzigartigen Ausmaßen und mit Windgeschwindigkeiten in seinem Wirbel von bis zu 150 Kilometern pro Stunde peitscht auf die nordöstliche Küstenlinie der USA.

Regenmassen fluten Dörfer, Städte und Teile der Metropolen, von North Carolina über Washington D.C. und New York City bis zur kanadischen Grenze. Sandy könnte sich am Dienstag und Mittwoch zum heftigsten Sturm seit einem Jahrhundert auswachsen.

In Atlantic City in New Jersey verwandelten sich Straßen bereits am frühen Montagmorgen in Kanäle. In Ocean City in Maryland hat das Meer die Pier und einen Großteil des Strandes weggespült und die Dünen überwunden. In Virginia Beach reißen plötzlich entstandene Bäche den Untergrund unter gefährlich instabilen Strandhäusern weg, und Parkhäuser werden in Notquartiere umfunktioniert. In New York City nimmt eine Sturmflut Kurs auf Lower Manhattan, die Wellen können über drei Meter hoch werden, an der West Side knickte ein Baukran um. Das Herz der Finanzmetropole, die Wall Street, hörte Montag auf zu schlagen – zum ersten Mal seit 27 Jahren. Auch am heutigen Dienstag bleibt die Börse geschlossen. Damit wird der Parketthandel an der „NYSE“ erstmals seit 1888 wegen schlechten Wetters an zwei aufeinanderfolgenden Tagen ausgesetzt.

Viele New Yorker sahen dem Sturm aber noch gelassen entgegen. Stunden vor seinem Eintreffen tanzten sie auf den gesperrten Stadtautobahnen. „Ich will einfach diese einmalige Gelegenheit nutzen“, sagte eine Mutter mit ihrer Tochter.

Bürgermeister Michael Bloomberg machte jedoch klar, dass der Hurrikan kein Spaß ist: Er ließ 370.000 Einwohner aus niedrig gelegenen Stadtteilen wie Coney Island in Brooklyn und Battery Park in Manhattan evakuieren. „Sie könnten essen oder ins Kino gehen. Aber denken Sie daran: Es ist gefährlich da draußen. Vielleicht ist das einfach ein guter Tag, vor dem Fernseher zu sitzen und ein Sandwich zu essen“, sagte Bloomberg in Richtung all derer, die nicht im Evakuierungsgebiet wohnen.

Tunnel geschlossen

Auch der Holland und der Brooklyn Battery Tunnel wurden am Montagnachmittag geschlossen. In Newark im angrenzenden New Jersey rütteln die ersten Ausläufer des Sturms an Holzplatten, mit denen Ladenbesitzer ihre Schaufenster zu schützen versuchen. „Sei nett zu uns, Sandy“, hat einer mit großen Buchstaben auf die Planken geschrieben.

Der Kapitän der „HMS Bounty“ wird vermisst, seit Sturmwogen vor den Outer Banks von North Carolina das Schiff versenkten, einen Nachbau des legendären Dreimasters, auf dem die Mannschaft im 18. Jahrhundert meuterte. Immerhin 15 der Segler wurden gerettet. Rettungskräfte der US-Küstenwache zogen am Abend eine 42 Jahre alte Frau ohnmächtig aus dem Wasser, berichteten US-Medien. 67 Menschen hatte „Sandy“ bereits von Kuba über die Dominikanische Republik und Haiti bis Jamaica getötet. An der Ostküste der USA gibt es unterdessen Szenen wie aus einem Krieg: 61.000 Mann der National Guard hat das Verteidigungsministerium dorthin beordert. Die Kommandokette bis hinauf nach Maine ist in Alarmbereitschaft versetzt. Ein Dutzend Schiffe der US-Marine in Virginia Beach wurde bereits am Sonntag auf die offene See hinausbeordert, um sie zu schützen gegen einen Feind, der sich durch modernste Waffentechnik nicht beeindrucken lässt.

„Das ist ein echter Killersturm“, warnte Marylands Gouverneur Martin O’Malley. „Er wird wahrscheinlich weitere Leben kosten.“ O’Malley forderte die Bürger auf, „sich zu Hause zu ducken und nicht auf die Straßen hinauszugehen“.

Mit einer Ausspreizung seiner orkanartigen Winde auf ein Spektrum von mehr als 1500 Kilometern bei seinem Kurs gen Nordwest hat „Sandy“ kurz vor Mitternacht auf Montag alle Vorgänger übertroffen. 50 Millionen Menschen an der Ostküste sind bedroht. Zerstörte Häuser, entwurzelte Bäume, unpassierbare Straßen, Stromausfälle, nach Prognosen der zuständigen Behörden bis zu einer Woche lang, das sind die üblichen Folgen eines Hurrikans. Die Sturmschäden könnten sich nach Ansicht von Fachleuten auf etwa drei Milliarden Dollar (2,3 Milliarden Euro) belaufen. Andere Schätzungen gehen von 20 oder sogar 100 Milliarden Dollar Schaden aus. Aus Angst vor dem Hurrikan sind Supermärkte leer gehamstert, Wasserflaschen, Lebensmittel in Dosen, Taschenlampen und Batterien wurden knapp, Schulen und Büros wurden geschlossen, der Nahverkehr ausgesetzt, und schon am Morgen waren fast 8000 Flüge gecancelt. Washington glich am Morgen einer Geisterstadt. Dem Sender CNN zufolge waren am Nachmittag rund 765.000 Menschen in mehreren Staaten von der Stromversorgung abgeschnitten.

Das alles tritt in manchen Regionen einigermaßen regelmäßig auf. Aber diesmal kann es, fast zum Abschluss der bis Ende November terminierten Saison für Wirbelstürme, noch verheerender kommen. Denn „Sandy“ ist kein gewöhnlicher Hurrikan. Er ist ein „Hybridsturm“, sagen die Meteorologen, weil er aus dem Zusammenprall von warmem Tropensturm und arktischer Kaltfront entsteht. Er ist „Frankenstorm“, zieht der Boulevard die sprachliche Parallele zu dem fiktiven Wissenschaftler, der ein Monster schuf.

Üblicherweise verliert ein Hurrikan an Kraft, wenn er Land erreicht. „Sandy“ kann sich jedoch noch beschleunigen, weil sich in einer Zangenbewegung die warmen Luftmassen aus dem Südosten mit den Eiswinden aus dem Nordwesten verbünden und die unterschiedlichen Luftdrücke Dauerwirbel verursachen. Kentucky, West Virginia und North Carolina könnten daher bis zu einem halben Meter Schnee bekommen. In der Hauptstadtregion, in Massachusetts, New York, Connecticut, Pennsylvania, Maryland, Rhode Island und New Jersey war der Notstand ausgerufen.

Wer die Macht hat, eine Supermacht zu peitschen und in das Leben von 50 Millionen Menschen im Nordosten der USA einzugreifen, kann auch Wahlkämpfe durcheinanderwirbeln – und möglicherweise entscheiden. Herausforderer Mitt Romney sagte am Wochenende Aufritte in Virginia und New Hampshire ab. Zunächst wollte er die Kampagne in Ohio fortsetzen, doch am Montagmittag stornierte er alle Termine für Dienstag.

Obama spricht zur Nation

Präsident Barack Obama war am Sonntagabend in Florida eingetroffen, aber vor einem in Orlando geplanten Auftritt reiste er am frühen Montagmorgen zurück nach Washington. Zuvor hatte er sich von Mitarbeitern der nationalen Katastrophenbehörde Fema über die aktuelle Entwicklung informieren lassen und mit Einsatzleitern konferiert. In einem Statement an die Nation rief Obama die Bevölkerung an der Atlantikküste eindringlich dazu auf, zum eigenen Schutz strikt den Anweisungen der Behörden zu folgen. „Dies wird ein großer und mächtiger Sturm“, warnte Obama im Weißen Haus. Der Präsident versicherte zugleich, dass alles Mögliche zur Vorbereitung auf den Hurrikan getan worden sei. „Ich bin zuversichtlich, dass wir bereit sind“, sagte Obama. „Wir werden das zusammen überstehen.“ Angesichts des Ausmaßes des Sturmes werde es aber eine Weile dauern, bis sich die Lage wieder normalisieren werde.

Doch während „Sandy“ den Wahlkämpfer Obama zur Unterbrechung zwingt, übernimmt der Commander-in-Chief Obama nahtlos eine noch größere Bühne. Für ihn könnte die dramatische Entwicklung einen wichtigen und vielleicht gar entscheidenden Vorteil auf der Zielgeraden zur Wahl am kommenden Dienstag darstellen. Romney ist in diesen Tagen zur weitgehenden Passivität gezwungen. Der Präsident hingegen kann sich als Krisenmanager an die Nation wenden. Die Auswirkungen von „Sandy“ werden mutmaßlich nicht vergleichbar sein mit Kriegen oder dem „9/11“- Terrorschlag. Aber so, wie frühere Präsidenten von diesen Herausforderungen in Wahlzeiten profitierten, wird das Weiße Haus alles daransetzen, den Präsidenten in den kommenden Tagen als Staatsmann zu präsentieren, für den das Land weit vor der Partei kommt. Obwohl ein Rückgang der Wahlbeteiligung infolge der üblen Wetterbedingungen tendenziell Romney nutzen könnte, wird Obama der Verzicht auf Veranstaltungen unter anderem in Virginia und Colorado leicht fallen. Und die Wahl, so Obama, werde in jedem Fall stattfinden.