Gesundheit

„Er ist mit dem Keim gestorben“

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Joachim Fahrun

Charité: Schon 2010 starb ein Frühchen im Virchow-Klinikum. Der Junge hatte sich mit einem multiresistenten Erreger infiziert, erzählt der Vater

461 Gramm. Als die Ärzte im Virchow-Klinikum der Charité den Jungen per Kaiserschnitt auf die Welt holten, wog das Frühchen nach 26 Wochen im Mutterleib nur so viel wie ein paar Knäuel Wolle. Eine Handvoll Leben mit ziemlich schlechten Chancen durchzukommen. Gesunde Neugeborene sind fünf- oder sechs Mal so schwer.

159 Tage kämpfte das Frühchen im Brutkasten auf der Neonatologie des Virchow-Klinikums vergeblich um sein Leben. Fünf Monate im Jahr 2010, die seine Mutter und sein Vater Markus Hellweg (Name geändert) mehr oder weniger auf der Station verbrachten.

Jetzt, nachdem sie von dem Ausbruch des Serratien-Keims und dem auch vom Gesundheitssenator kritisierten Umgang der Charité mit dem Problem erfahren haben, erzählt der Vater die Geschichte. Er berichtet von einer bisher öffentlich nicht bekannten massiven Ausbreitung eines gefährlichen, multiresistenten MRSA-Keims auf der Frühgeborenenstation. Sein Sohn war mit MRSA infiziert, auch als er starb, war der Keim auf seinem kleinen Körper noch nachweisbar. Der Mann erinnert sich an massive Versäumnisse bei der Hygiene. Und er beklagt die Versuche der Ärzte und der Klinikleitung, seine Kritik kleinzureden. „Man hat gegen Wände geredet“, gibt er seinen Eindruck wieder.

Aus Sicht des Vaters hat der Keim dazu beigetragen, dass sein Sohn es nicht schaffte, so wie weitere sechs der insgesamt neun Frühchen mit einem Geburtsgewicht unter 500 Gramm, die der Jahresbericht für 2010 ausweist.

„Auch wenn der Kleine nicht direkt an dem Keim gestorben ist, hat doch die Behandlung der Infektion ihn zusätzlich geschwächt“, ist der Vater überzeugt. „Man hat den Tod gefördert, weil man die Hygiene nicht eingehalten hat.“

Der ärztliche Direktor der Charité, Ulrich Frei, bestätigte auf Anfrage der Berliner Morgenpost die Probleme im Jahr 2010. 32 Kinder seien mit dem MRSA-Keim kolonisiert worden, sechs davon seien erkrankt. Blutvergiftung, Lungenentzündung, Bindehautentzündung. Das war wenige Wochen bevor das Thema Keime in Frühchenstationen nach dem Tod dreier Babys durch verunreinigte Nährlösung im Mainzer Uni-Klinikum Schlagzeilen machte. Die Neonatologie im Virchow hat 50 Plätze, davon 34 Intensivbetten.

Diagnose nach elf Tagen

Die Probleme in der Neonatologie im Virchow dauerten von Ende 2009 bis ins Frühjahr 2010, sagte Frei: „Ein solcher Ausbruch flackert immer wieder auf.“ Neben einem eher harmlosen Auftauchen von Rota-Viren und dem derzeitigen Serratien-Fall sei das MRSA-Problem von 2010 einer von drei solchen Keim-Ausbrüchen in der Virchow-Neonatologie in den letzten drei Jahren. Genau in diesem Zeitraum wurde kurz vor dem Jahreswechsel Hellwegs kleiner Sohn im Virchow geboren und auf die Neonatologie in den Inkubator gelegt. Im Mutterleib war der Fötus nicht ausreichend mit Nährstoffen versorgt worden, hatten die Ärzte festgestellt.

Am elften Tag wurden bei dem Frühchen Serratien entdeckt, das ist die Sorte weniger gefährlicher Keime, wie sie derzeit massiv auf der Station auftreten. Der Vater erinnert sich gut. Er hat ein Tagebuch geführt von seinen Wochen des Bangens auf der Neonatologie. Der Kleine bekam eine starke Lungenentzündung, wurde mit Antibiotika behandelt, und es gelang ihm, den Keim zu besiegen.

„Dann kam der MRSA-Keim“, sagt der Vater. Und der stammte eindeutig aus dem Krankenhaus. „Dort wurden MRSA-Kinder und nicht ansteckende Kinder zusammengelegt“, berichtet er. Eine Schwester habe beide Kinder behandelt und sich nicht immer die Hände desinfiziert. Er habe auch beobachtet, wie eine Putzfrau einen zu Boden gefallenen Schnuller aufhob und einfach auf einen Tisch gelegt habe, sagt der Vater.

Der ärztliche Direktor Frei weist die Vorwürfe zurück, die Hygiene sei lax und nicht gründlich gewesen. Man habe jedoch in der Untersuchung des Falls festgestellt, dass es einen Zusammenhang zwischen der Personalbesetzung auf der Station und der Infektiosität gebe. Diesen werde man demnächst sogar in einer wissenschaftlichen Publikation darlegen. Das Risiko einer Übertragung in gering besetzten Schichten liege höher als in den Schichten, die besser besetzt waren, räumt der Direktor ein.

Der Vater berichtet von häufigen Personalwechseln, Schwestern, die sich zum Rauchen abmeldeten und dann, ohne sich die Hände desinfiziert zu haben, wieder zur Arbeit kamen. Und er will beobachtet haben, wie sein Sohn lange auf eine helfende Hand warten musste und wie ihm seine Nahrung verspätet oder verfrüht verabreicht worden sei. Im Zimmer, in dem die Mütter oft gleichzeitig die Muttermilch für die Kleinen abpumpten, sei oft gesprochen worden: „Alle waren der gleichen Meinung. Die Hygiene ist ein großes Problem“, erinnert sich der Mann an die schweren Zeiten vor zwei Jahren.

Charité-Direktor Frei verweist darauf, dass man sofort die nicht besiedelten von den mit dem Keim befallenen Patienten getrennt habe. Es habe die „Kohortentrennung nach Gruppen“ gegeben. Der hohe Verbrauch von Desinfektionsmitteln sei ein Beleg für ausgiebiges Händewaschen. Man habe die „Compliance“ zur Handhygiene beobachtet, also überwacht, wie genau die Mitarbeiter die Vorschriften befolgen. Allerdings bleiben auch in solchen Fällen Lücken. Die Chefhygienikerin der Charité hatte diese Woche berichtet, mit einer „Compliance-Quote“ von 92 Prozent liege das Haus ganz vorne unter den deutschen Krankenhäusern.

Er habe auch mit der Hygieneabteilung gesprochen, berichtet der Vater: Da habe man ihm gesagt, er habe ein schwer krankes Kind, die Hygiene sei gut. Für betroffene Eltern sei es wegen der emotionalen Belastung schwer, realistisch zu bleiben. In der Hektik einer Intensivstation kämen einzelne Versäumnisse schon mal vor. Diese Argumentation zieht die Charité auch in der Diskussion um den aktuellen Serratien-Ausbruch heran.

Anonymer Anruf

Wie die Station nach dem Bekanntwerden der MRSA-Keime reagiert habe, dazu hat der Vater andere Beobachtungen gemacht, als es die Klinikleitung darstellt. Er sagt, sein Kind habe mit einem anderen Säugling in einem Zimmer gelegen, bei dem die Besiedlung bekannt gewesen sei. Auch seien zunächst die Hygieneregeln nicht hochgefahren worden. Er selbst habe anonym per Telefon das Gesundheitsamt Mitte verständigt und die Aufsichtsbehörde über den Keim informiert.

Erst danach sei der Amtsarzt auf der Station erschienen und habe strengere Auflagen angeordnet. Die Eltern und das Pflegepersonal seien angewiesen worden, Hauben und Kittel zu tragen, die Pfleger sollten Handschuhe anziehen. Auch die Eltern seien zu diesem Zeitpunkt überhaupt erst über die Hygienemaßnahmen informiert worden, erinnert sich der Vater. Ein Schriftstück mit Vorschriften für Eltern sei formuliert worden, vorher habe er ein solches nicht gesehen. Auch habe man bei allen Eltern, die regelmäßig auf der Station waren, einen Abstrich vorgenommen. Ergebnis: negativ. Der Keim müsse also übers Personal übertragen worden sein, folgert der Vater.

Charité-Direktor Frei sagte, es habe keine Versäumnisse beim Kampf gegen den Keim gegeben. Man habe alle zuständigen Stellen informiert, Ansteckungswege rekonstruiert und den Ausbruch sehr gründlich untersucht, mit dem Robert-Koch-Institut, dem nationalen Referenzzentrum zur Überwachung von Infektionserregern, dem Gesundheitsamt und dem Landesamt für Gesundheit und Soziales. „Das war kein versteckter Ausbruch, sondern es wurde gründlich geprüft und dokumentiert“, sagte Frei. Die Quelle der Verunreinigung sei dennoch nicht gefunden worden.

Der Vater ist überzeugt, dass sein Sohn auch wegen des Keims viele Wochen lang beatmet werden musste, so lange, bis die Ärzte die Maschine abschalteten und die Lunge zusammenfiel. Dann sei sein Sohn eingeschlafen, sagt der Mann: „Er ist mit dem Keim gestorben.“