Schließlich fand die Koalitionsdelegation dann doch noch Einlass und traf im Louise-Schröder-Saal im dritten Stock des Rathauses auf die Verhandlungspartner von der SPD. Die Grünen waren angespannt, aber in guter Stimmung. Sie hatten sich am Abend zuvor für inhaltliche Verhandlungen über Haushalt und Personal präpariert, Papiere verfasst und Positionen dargestellt.
Auch die SPD hatte sich vorbereitet. Finanzsenator Ulrich Nußbaum (parteilos) sollte die Eckpunkte des Haushalts darlegen. Eine Liste mit den Gesprächsterminen der einzelnen Arbeitsgruppen lag vor. Doch einige SPD-Teilnehmer am ersten Koalitionsgespräch hatten ein mulmiges Gefühl. Denn trotzt mehrmaliger Versuche per Telefon und SMS hatten die Sozialdemokraten die Grünen-Führung am Vorabend nicht erreicht. Denn die Frage des Weiterbaus der Autobahn war immer noch nicht geklärt.
Kurz nach 11 Uhr begannen die Koalitionsgespräche dann. Zur Einleitung sprach SPD-Chef Michael Müller. Die Grünen wiesen darauf hin, dass man über den am Vorabend verhandelten Kompromiss sprechen wolle. Müller hob an, etwas dazu zu sagen. Da fiel ihm Klaus Wowereit ins Wort. "Die Position der SPD ist, die A 100 wird gebaut", sagte der Regierende Bürgermeister. Von Kompromiss war da keine Rede mehr.
Später ging es um die Interpretation des Autobahnkompromisses. Vor allem der Begriff des "qualifizierten Abschlusses" harrte der Konkretisierung. Der SPD-Kreisvorsitzende von Charlottenburg-Wilmersdorf, Christian Gaebler, versuchte, andere Worte für diese Fachformel zu formulieren, konnte sich damit aber nicht durchsetzen. Die SPD interpretierte den qualifizierten Abschluss als Abfahrt zur Sonnenallee, die Grünen sahen darin den Abschluss jeglicher Autobahnbauarbeiten - für immer.
"Wir waren 1,5 Zentimeter von einer Einigung entfernt", sagte ein grünes Delegationsmitglied anschließend. Es war Klaus Wowereit, der immer wieder grundsätzlich wurde und die Diskussion zuspitzte. Die Frage des Weiterbaus sei für ihn "nicht verhandelbar", sagte der Regierende Bürgermeister wiederholt. Dass zunächst an der Sonnenallee die Autobahn enden sollte, wollte er nicht akzeptieren. Die Grünen argumentierten, dass man ja erst einmal für die nächsten fünf Jahre entscheiden müsse und nicht für die Ewigkeit.
Nach einer knappen Stunde bat die SPD um eine Auszeit. Dann kamen sie wieder. "Das macht keinen Sinn", erklärte SPD-Landeschef Müller. Und: "Wir kommen nicht zueinander." Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit sei nicht möglich. Die Koalitionsverhandlungen waren zu Ende, bevor sie richtig losgegangen waren.
Gegenseitige Schuldzuweisungen
"Es hat sich herausgestellt, dass es keine tragfähige Einigung zur A 100 gegeben hätte", sagte Wowereit später. Von Enttäuschung keine Spur. Manchmal zog sogar ein Lächeln über Wowereits Gesicht, nachdem er das Scheitern der Gespräche aus der Sicht der SPD erklärte.
Nach der erfolglosen Koalitionsverhandlung versuchten die SPD-Verhandlungsführer die Schuld den Grünen zuzuschieben - auch, um die Kritiker in den eigenen Reihen zu besänftigen. Die Grünen hätten verschiedene Interpretationsversuche im Kompromisstext ausgemacht. Der Kreuzberger Grünen-Abgeordnete Dirk Behrendt, Vormann des linken Parteiflügels, habe sich "diebisch gefreut", als die SPD sagte, mit dem grünen Kompromissvorschlag sei die Autobahn an der Sonnenallee geblockt. Andere Grüne wie die Ex-Fraktionschefin Franziska Eichstädt-Bohlig hätten hingegen von einem "Gestaltungsspielraum" gesprochen, den dieser Beschluss biete.
Die Grünen wiesen diese Vorwürfe am Nachmittag zurück. Möglicherweise hätte die SPD nicht verstanden, was sie da am Vorabend gemeinsam zu Papier gebracht hätten, hieß es. Erst später sei den Sozialdemokraten bewusst geworden, dass der "qualifizierte Abschluss" das Ende der Autobahn bedeutete. Daraufhin hätte Wowereit beide Kompromisse in den Wind geschlagen und auf den Ausbau der Autobahn bestanden.
Renate Künast kommentierte das Ende der rot-grünen Verhandlungen und Wowereits Verhalten so: "Er wollte eine Kapitulation und keine Koalition."
In weiten Teilen der Berliner SPD wurde die Nachricht vom Platzen der Koalitionsgespräche mit Entsetzen aufgefasst. "Das ist extrem bitter", sagte der umweltpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, der Spandauer Abgeordnete Daniel Buchholz. Große Teile der Basis und der Funktionäre in den Kreisverbänden hatten auf Rot-Grün als nächste Berliner Regierung gesetzt. "Es geht doch um viel mehr als um 3,2 Kilometer Autobahn. Berlin braucht doch dringend ein rot-grünes Bündnis, um die Probleme der Stadt anzugehen", sagte Buchholz. Der Kreisvorsitzende der Reinickendorfer SPD, Jörg Stroedter, der sich wie Buchholz öffentlich für Rot-Grün eingesetzt hatte, sagte: "Ich halte die Entscheidung für falsch. Es hätte in der Frage der A 100 auch einen Kompromiss geben können", ist sich Stroedter sicher.
Aber wollte die SPD-Führung um Parteichef Michael Müller und dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit wirklich Rot-Grün? Viele in der Partei hatten am vergangenen Wochenende aufgehorcht, als sich der Parteivorsitzende Müller kritisch in Richtung Grüne äußerte, obwohl die Grünen sich auf einem Parteitag am Freitag für Koalitionsverhandlungen ausgesprochen hatten. In der SPD nahm der Unmut über die Verhandlungsführung von Müller und Wowereit am Mittwochnachmittag dann deutlich zu. Müller habe nie wirklich ein Bündnis mit den Grünen gewollt, hieß es.
Um 17 Uhr kamen im Kurt-Schumacher-Haus die Vorstandsmitglieder der Berliner SPD zu einer Sondersitzung zusammen. Der Großteil der Sozialdemokraten, die nach und nach im Wedding eintrafen, zeigte sich ziemlich überrascht von den Ereignissen des Tages und wollte noch nicht begreifen, dass eine Koalition mit den Grünen kaum mehr möglich sei. "Ich war doch letzte Woche nicht besoffen, als ich hier für Rot-Grün gestimmt habe, ich war da doch bei klarem Verstand", sagte Ulrike Sommer, Beisitzerin im Vorstand und Ehefrau von DGB-Chef Michael Sommer. Auch die SPD-Abgeordnete Karin Seidel-Kalmutzki wirkte recht fassungslos, als sie sagte, sie sei überrascht, aber gespannt, was dem Vorstand nun berichtet werde. Einzig der SPD-Kreisvorsitzende in Mitte, Christian Hanke, war vom Scheitern der Koalitionsverhandlungen wenig beeindruckt. "Jetzt ist eingetreten, was sich in den letzten zehn Tagen schon abgezeichnet hat", sagte Hanke, der sich stets kritisch gegenüber einer rot-grünen Koalition gezeigt und eher ein Bündnis mit der CDU favorisiert hatte. Klaus Wowereit war einer der letzten der insgesamt 40 Vorstandsmitglieder, der am Kurt-Schumacher-Haus eintraf. "Meiner Meinung nach ist der Sachstand eindeutig", sagte er. Auf die Frage, welche Entscheidung er erwarte, wenn Michael Müller Koalitionsverhandlungen mit der CDU vorschlage, sagte der Regierende Bürgermeister: "Der Landesvorstand hat bisher in großer Mehrheit entschieden, und ich gehe davon aus, dass er das auch weiter tun wird." Wowereit sollte recht behalten: Der Landesvorstand stimmte am Abend dann mit großer Mehrheit für Koalitionsverhandlungen mit der CDU. Einer der entscheidenden Fürsprecher für Koalitionsverhandlungen mit der CDU war der Parteilinke Mark Rackles, der erklärte, dass die Grünen nicht regierungsfähig seien. Damit brach der Bann. Ohne Gegenstimmen bei zwei Enthaltungen votierte der Landesvorstand für Gespräche mit der Union.
Eine zuvor angedachte offene Revolte fand nicht statt, niemandem wollte Wowereit und Müller eine Niederlage bereiten. Denn das hätte bedeutet, dass die beiden sofort zurückgetreten wären, dass Neuwahlen wohl nicht mehr ausgeschlossen wären.
Und dennoch: Nur viele SPD-Funktionäre und Abgeordnete werden Rot-Schwarz nur mit "geballten Fäusten in der Tasche" mittragen. Eng werden könnte es deshalb für Landeschef Müller. Er galt bisher als möglicher Nachfolger für Wowereit als Regierenden Bürgermeister. Auch deswegen kursierte am Mittwoch eine weitere Begründung für das rot-grüne Scheitern. Man brauche eine deutliche Mehrheit, um in der Legislaturperiode einen Wechsel von Wowereit zu Müller im Parlament durchzusetzen, hieß es bei der SPD. Mit den Grünen gebe es nur eine Stimme über der absoluten Mehrheit, mit der CDU sind es elf Stimmen.
Reinickendorfs SPD-Kreischef Stroedter sieht nun schwierige Zeiten auf die eigene Partei zukommen. Ihm sei unklar, wie die Partei, gefangen in einer rot-schwarzen Koalition, bei den Bundestagswahlen 2013 und bei den nächsten Berliner Wahlen 2016 erfolgreich sein wolle. Große Koalitionen seien grundsätzlich ein Problem, zumal es in Berlin "keine Notsituation" gebe, die solch ein Bündnis rechtfertige, so Stroedter.
Die Enttäuschung ist groß
Spandaus Kreischef Raed Saleh, der als möglicher neuer SPD-Fraktionschef bereitsteht, machte aus seiner Enttäuschung keinen Hehl. "Ich habe mir für Berlin ein stabiles rot-grünes Bündnis gewünscht", sagte der 34-Jährige.
Saleh blickte aber schon nach vorn. Die SPD habe vom Wähler am 18. September einen eindeutigen Regierungsauftrag erhalten. Nun müsse es darum gehen möglichst viele SPD-Positionen in den Verhandlungen mit den Berliner Christdemokraten durchzusetzen.