Dabei war er nur in Leipzig, und das gerade zwei Jahre, er produzierte dort die TV-Serie "In aller Freundschaft". Zwei von 41 Lebensjahren für die erfolgreichste Arztserie Deutschlands, zwei von 20 Jahren Arbeit "beim Film". Aber: ein Drittel im Leben seines sechsjährigen Sohnes. Alles eine Frage der Perspektive. "Jetzt will ich endlich meine eigenen Geschichten erzählen" - auch diesen Satz wird Jochen Alexander Freydank noch wiederholen. Es ist eine Heimkehr in vielfachem Sinn.
Der Filmregisseur wurde am 22. Februar zu "unserem" Oscar-Preisträger 2009. Er wurde bejubelt und bestaunt, eigentlich hatte Bernd Eichingers "Der Baader Meinhof Komplex" als deutscher Oscar-Favorit gegolten. Natürlich waren in jener Nacht in Berlin alle wach, die sich für Film interessierten und schon mal den Namen Freydank gehört hatten. "Vier Jahre meines Lebens habe ich für diese 14 Minuten Film gegeben", sagte dieser in seiner Dankesrede, kurz blendeten sie seine Hauptdarstellerin Julia Jäger ein, die aufgeregt lächelte wie Julia Roberts in "Pretty Woman". Nein, viel schöner.
Denn dieses Lächeln war echt. Das Berliner Hollywood-Märchen schien perfekt. Die Story vom ambitionierten, aber leider mittellosen Filmemacher, den keine Filmhochschule haben wollte. Der vom Drehbuch über die Produktion bis zur Büroarbeit alles selbst machte. Der zwei Jahre lang "betteln ging" für die Finanzierung von "Spielzeugland".
Der Film erzählt, wie eine Berliner Mutter einen jüdischen Nachbarsjungen vor der Deportation rettet. Am Ende spielten die Darsteller ohne Gage und das Medienboard Berlin-Brandenburg gab das Fördergeld. Für den Film. Und für die Reise zur Oscar-Verleihung nach Los Angeles.
Hinter der Mauer aufgewachsen
Seine Dankesrede hatte Freydank so begonnen: "Ich bin in Ostdeutschland aufgewachsen, hinter der Mauer. Westdeutschland war für mich immer weit weg. Und jetzt Hollywood - einfach unglaublich."
Nun ist er zurück aus der Traumfabrik und aus Leipzig, wo er die letzten zwei Jahre sein Geld verdiente. Es ist Samstag, zehn Uhr morgens. Über dem Mauerpark, Epizentrum des neuen Party-Berlin, hängt der Geruch von Schweiß, gemähtem Rasen und Müll. Wer um diese Uhrzeit hier ist, trägt Trainingsanzug, ob aus sportlichen Gründen oder aus Gewohnheit. Jochen Alexander Freydank ist in Hemd und Jeans erschienen.
Wir stehen oben an der bunten Graffitowand des Jahnsportparks, einst streng bewachte Grenze Ost-Berlins. Heute stehen hier Riesenschaukeln, auf denen man Richtung Fernsehturm fliegen kann und zurück. Unter uns: der ehemalige Mauerstreifen, Wasserscheide zwischen der ballonseidenen Welt des Wedding, dem Latte-macchiato-Glück in Mitte und dem soliden Prenzlauer Berg, wo Freydank vor 20 Jahren hinzog. Noch bevor die "Schwaben" kamen, wie er grinsend sagt. Aufgewachsen ist er in Weißensee. Man hört es am dezenten Berlinern, dem Innenstadttonfall der Intellektuellen (Ost).
Im Mauerpark hat er Teile seines ebenfalls preisgekrönten Kurzfilms "Dienst" gedreht. Ein Wachmann erschießt Passanten nach einem düsteren System, "ein Film mit viel schwarzem Humor", sagt er. Eine Satire auf Staaten wie die DDR? "Nein, eher auf den Law-and-Order-Wahn von George Bush oder auch in Großbritannien, wo man sich nirgends bewegen kann, ohne gefilmt zu werden." Vielleicht liege es an seiner Vergangenheit, dass ihm Überwachungskameras besonders auffallen. "Ich habe am Alexanderplatz gesehen, wie die Stasi-Kameras abgebaut wurden, heute hängen wieder welche da, im Namen der Sicherheit."
Fotograf und Regisseur wählen den Ort für die Porträtfotos aus. Ein Mann mit Hund sitzt genau da, wo die beiden gleichzeitig hinwollen, und schaut auf seine Stadt. Im Jahnsportpark hinter uns rumort ein Putzfahrzeug, irgendwas ist dort im Gange. Das Jammern der S-Bahn hinten an der geschichtsträchtigen Bornholmer Brücke weckt Erinnerungen. "Die S-Bahn fuhr hier zu DDR-Zeiten ein Stück durch den Westen", erinnert sich Freydank. Was sah man? "Nichts, glaube ich, sie fuhr wahrscheinlich genau deshalb besonders schnell", meint er, wir lachen.
Die DDR: Freydank schildert glückliche Momente. Er sei unter Dinosauriern aufgewachsen. Sein Vater war Biologe im Naturkundemuseum, die Mutter arbeitete im Märkischen Museum. "In den Sommerferien nahm mich mein Vater mit zur Arbeit." Fernsehen und Kino spielten eine untergeordnete Rolle, galten als gleichgeschaltet. "Man ging ins Theater, um die Zwischentöne zu hören." Die Teilung? Die Verwandtschaft aus West-Berlin kam zu Besuch, "ich nahm das so hin, ich war ja in die Situation hineingeboren". Über sich selbst erzählt er, wie er das Abitur an der Erweiterten Oberschule ablegte, zur "scheiß Armee" (wörtlich) ging, danach ein Regievolontariat begann, unter anderem an der Schauspielschule Ernst Busch. Aber er führte es nicht weiter. "War nicht das, was ich wollte." Was wollte er denn? "Meine eigenen Geschichten erzählen, als Regisseur." So habe er es dann geschafft, schon vor dem Ende der DDR arbeitslos zu sein, sagt er ironisch. Nach der Wende arbeitete er lange als Cutter und Regieassistent, "dabei habe ich vermutlich mehr gelernt", auch fürs Schreiben: "Eine Story zu erzählen funktioniert wie beim Schneiden eines Films. Die Kunst ist das Weglassen", sagt er, diesmal vollkommen ohne Ironie. Und man begreift, wie er es wagen konnte, eine Geschichte über den Holocaust in 14 Minuten zu erzählen.
Fünf Mal wurde er bei Berliner und Potsdamer Filmhochschulen abgelehnt. "Das eine Mal war ich ihnen zu erfahren, das nächste Mal zu unerfahren", sagt er. "Ich habe unzählige Drehbücher verschickt, oft kam nicht mal eine Absage." Auf der Homepage seiner Produktionsfirma Mephistofilm steht unter der Bitte um Drehbücher der Zusatz: "Wir lesen sie auch!" Freydank hat einen trockenen Humor. Zu seinen herausragenden Eigenschaften dürfte aber der Mut zählen. Mut zum Neinsagen: "Ich hätte als Producer längst eine gute Stellung haben können." Mut zum Abenteuer: Einmal kam er nach einem Jahr pleite aus London wieder, "der Film wurde nie gedreht".
Wir sitzen inzwischen an der Oderberger Straße in einem Café. Um uns herum frühstücken Familien. Er senkt die Stimme. Das Erkanntwerden braucht noch Gewöhnung. In den USA sei er einfach auf der Straße angesprochen worden, "die Leute kannten sogar meinen Namen". Die Berliner seien dafür zu cool. "Eigentlich seltsam", überlegt Freydank, dass die angesagteste Kneipenmeile des Prenzlauer Bergs, die Kastanienallee, inzwischen scherzhaft Casting-Allee genannt werde, "weil dort alle behaupten, sie wären beim Film". Er lacht. Er war schon länger nicht mehr da. "Keine Zeit".
Kurzer Blick auf die Uhr. Nachmittags will er mit dem Sohn in die Uckermark fahren - oder soll er doch lieber zum 1. FC Union gehen? "Die spielen ja jetzt im Jahnsportpark", sagt er, "ausgerechnet!" Das Stadion war zu DDR-Zeiten Stammspielstätte des Stasi-Klubs BFC Dynamo, Ehrenvorsitzender: Erich Mielke. Moralischer Gegenspieler war der 1. FC Union. "Natürlich waren wir alle für Union", sagt Freydank "da kam nichts von oben." Heute sei das nicht anders. Einmal hätten ihn bei einem Spiel zwei Fans angesprochen: Ob er nicht bei der Sanierung des Union-Stadions an der Alten Försterei mit anpacken wolle? "Die machen das selbst, mit eigenen Händen!" Er mag Berlin, sagt er, auch für Legenden wie diese.
Ein Freund von früher
Eine junge Frau mit zwei Kindern bleibt am Café stehen, kurzes Wiedererkennen, große und kleine Fahrräder werden geparkt. Kurze Umarmung. "Wie groß ist dein Sohn inzwischen?" Kurze Verlegenheit. "Eine Freundin von früher", erklärt er später. So einer ist Jochen Alexander Freydank jetzt: ein Freund von früher, der berühmt geworden ist. Dann schlüpft er zurück in die Rolle des Regisseurs.
Der Holocaust - wie hat er mit den damals sechsjährigen Hauptdarstellern darüber gesprochen? "Genau von diesem Problem handelt ja 'Spielzeugland'", sagt er. In dem Film erzählt die Mutter ihrem Sohn, die jüdische Nachbarfamilie verreise ins Spielzeugland - in Wirklichkeit wird die Familie deportiert. Fatales Missverständnis: Der Kleine ist begeistert von jenem Land und versucht, sich heimlich zu den Deportierten zu schmuggeln ... "Über Konzentrationslager kann man mit Kindern nicht sprechen", sagt Freydank, "wir haben den Jungen erklärt, dass den Leuten etwas sehr Schlimmes drohte."
Die Rolle des jüdischen Jungen David spielte ein türkisches Kind aus Wilmersdorf. Wieder so eine kleine, schöne Berlin-Geschichte. "Ich habe mit der Mutter vor dem Casting darüber gesprochen, aber sie fand das vollkommen in Ordnung", sagt Freydank, "und der Junge wurde dann in der Türkei als kleiner Oscar-Preisträger gefeiert." Gerade lief der Film auf dem Jüdischen Filmfest in Berlin, Freydank sprach mit Holocaust-Überlebenden im Publikum: "Sie waren sehr, sehr berührt."
Rund 70 Festivals sind es inzwischen, auf denen "Spielzeugland" gezeigt wurde und dabei 24 Preise gewann - allerdings vor allem im Ausland. Aus Deutschland rufen auch drei Monate nach dem Oscar vor allem Journalisten an. Ein Lokalsender begleitete den nominierten Regisseur schon vor der Verleihung beim Kauf seines Smokings, danach wurde er Wettpate bei "Wetten, dass . . ?" im ZDF und legte Tarotkarten für Arte. Reporter entlockten ihm Anekdoten wie jene vom Regisseur Danny Boyle, der Julia Jäger auf dem roten Teppich aufs Kleid trat. Dessen Film "Slumdog Millionaire" räumte dann gleich acht Oscars ab. Auf der Party danach lachten sie gemeinsam über das glücksbringende Malheur.
Doch auch wenn das ganz große Angebot noch nicht kam, wirkt Freydank gelassen. Fast so, als schaue er seiner eigenen Geschichte zu, wie sie langsam zum Mythos wird. Er erzählt von all den "üblen Jobs", die doch auch Schule des Lebens waren: als Soldat beim Braunkohle-Einsatz im "Winterkampf" der DDR, am Fließband in einer Radiofabrik, Anfang der 90er-Jahre beim Apfelsinenkistenschleppen in den USA. "Damals beschloss ich: Wenn ich je wiederkäme nach Amerika, würde ich die Hotels durch den Haupteingang betreten und nicht von hinten, um nach Jobs zu fragen." Immerhin, das scheint gelungen. "Gerade war ich wieder dort und habe Leute von wirklich großen Firmen getroffen."
Sein nächstes Projekt werde auf jeden Fall ein Langfilm sein, versichert er optimistisch. Eine Idee dazu war schon länger bekannt: "Ich möchte Kafkas Erzählung 'Der Bau' verfilmen. Obwohl alle sagen, das sei unverfilmbar", er grinst. Andererseits, sagt er, würde er jetzt auch gern mal etwas anderes machen - "und die Geschichte von jemand anderem umsetzen". Ein paar gute Drehbuchangebote habe er schon.
Ein kleiner Traum geht an jenem Samstagnachmittag aber doch in Erfüllung. Der Regisseur und sein Sohn bejubeln einen historischen Sieg des 1. FC Union. Der Klub steigt auf in die Zweite Liga.
Das Leben geht weiter, "in Berlin!", Freydank wiederholt sein Glück, wieder zu Hause zu sein.
Seinen Oscar verwahrt Jochen Alexander Freydank einstweilen im Schrank im Büro. Neulich sei auch die Plakette mit seinem Namen angekommen, die aus der anonymen Statue sein persönliches Exemplar macht - ein letzter Beweis, dass er nicht geträumt hat, an jenem 22. Februar sehr spät in der Nacht.
"Westdeutschland war für mich immer weit weg. Und jetzt Hollywood - einfach unglaublich"
Jochen Alexander Freydank im Gespräch mit unserer Autorin Uta Keseling