Es gibt nichts Schöneres, als im Frühling am Kinneret aufzuwachen. Die Sonne fließt durch das Fenster. Wer aufsteht und nach draußen tritt, der sieht sie in grellen Splittern auf dem Wasser liegen. In der Ferne die Umrisse einer Hügelkette: die Berge des Golans. manche von ihnen noch schneebedeckt.
Der Kinneret, hierzulande bekannt als See Genezareth, ist eine Reise wert. Touristen strömen an seine Ufer, doch sie bleiben nicht lange. Innerhalb weniger Stunden reisen sie auf den Spuren Jesu nach Nazareth, dann hurtig nach Tabgha, hebräisch En Sheva, also Siebenquell, zum Ort der wundersamen Brotvermehrung, zum Berg der Seligpreisung, nach Kapernaum, dann an den Jordan, um schließlich nach Jerusalem weiterzubrausen. Möglich ist das, bedauerlich bleibt es.
Der Kinneret, den die Evangelisten nur ein einziges Mal als See Genezareth (Lukas 5, 1), sonst meist als Galiläisches Meer bezeichnen, hat mehr verdient als einen Tagesausflug. Wer es nicht glaubt, der soll auf die Araber hören. Sie preisen ihn seit Jahrhunderten als "das Auge Allahs".
Wer an seinem Ufer steht und auf die tausend zerrissenen Sonnen in den Wellen schaut, der spürt den Zauber, der von dem Ort ausgeht. Christliche Pilger begehen immer wieder denselben Fehler. Sie fahren nicht nach Israel, sondern bereisen das Heilige Land. Am See Genezareth können sie beides tun. Nur ein wenig mehr Zeit bräuchten sie, etwa um den ersten Kibbuz des Landes zu besuchen, den Kibbuz Deganya, der 1910 gegründet wurde. Der legendäre Verteidigungsminister Moshe Dayan ist dort geboren und aufgewachsen.
Durch das Gebiet des Kibbuz fließt der Jordan. Jährlich besuchen Tausende von Baptisten das Flussufer, um sich in Yardenit, so die Stelle am Fluss, taufen zu lassen. Hier soll, so sagen viele Gläubige, Johannes der Täufer Jesus getauft haben. Markus hingegen wähnt den Ort im Süden auf der Höhe von Jericho (Markus 1, 9). Sicher dagegen ist, dass bei Deganya Sultan Saladin 1187 den Jordan überschritt. Mit einem gewaltigen Heer zog er zu den Hörnern von Hattin. Dort schlug Saladin das Kreuzfahrerheer und beendete die Herrschaft des christlichen Königreichs Jerusalem. Doch es ist nicht allein das Gefühl der Geschichte, das den Besucher an diesem Ort umschleicht. Es ist das verschwenderische Maß an Wärme, Licht und frischem Grün überall in der Nähe des Sees. Offenbar war das nicht immer so. Wer den Kibbuz Ginosar besucht, der kann in der kleinen Ausstellung dort sehen, wie die jüdischen Siedler, die den Kibbuz 1937 gründeten, gegen Malaria und Hitze, gegen die Sümpfe und den Wind kämpften. Kahl war die Erde, kaum etwas wuchs. Heute fährt eine leichte Brise durch Eukalyptusbäume und Bananenpalmen. Das Ufer ist bepflanzt und lädt zum Spazieren ein. Und ein Gästehaus bietet Nachtquartier. Zwei Mitglieder des Kibbuz stießen 1986 nach einem Jahr der Dürre auf die Reste eines Fischerbootes, das durch das Sinken des Wasserspiegels plötzlich wie ein Schiffswrack am Strand lag. Zusammen mit Archäologen und Restauratoren legten die Kibbuzniks das acht Meter lange und zwei Meter breite Boot frei. Tongefäße in seinem Inneren verrieten den Experten, dass es 2000 Jahre alt war, also durchaus dem Kahn entsprach, mit dem Jesus und seine Jünger zum Fischen hinausfuhren. Seit dem Jahr 2000 ist er der Öffentlichkeit im Igal-Allon-Haus des Kibbuz zugänglich. Viele christliche Besucher wollen in ihm das Boot des Simon Petrus sehen und stehen dementsprechend andächtig davor.
Nach kurzem Gebet strömen viele von ihnen zurück in die Busse und fahren zum Berg der Seligpreisung. Ihnen bleibt keine Zeit, einen Abstecher nach Migdal zu unternehmen. In biblischen Zeiten hieß das Dorf Magdala. Aus ihm kam ein leichtes Mädchen namens Maria, die später als Maria Magdalena ("die aus Magdala") bekannt werden sollte.
Der Weg von Migdal zum Berg der Seligpreisung führt zurück zum See. Die Sonne scheint. Der Himmel ist so blau, dass allein die Vorstellung, es könne sich bewölken, dem Fabeln eines Märchenerzählers zu entspringen scheint. Schon von Weitem erblickt man den Hügel, auf dem der Rabbi aus Nazaret die Bergpredigt gehalten haben soll. Still und in sich gekehrt ziehen die Touristen nach oben zu der Kirche und dem Hospiz, das von Franziskanerinnen betreut wird. In ganzer Pracht breitet sich ein Park vor ihnen aus, in der Ferne das goldglitzernde Wasser des galiläischen Meers. Einzelne Gruppen beten die Seligpreisungen nach (Matthäus 5, 3-10), die in Latein auch auf die acht Wände des Oktogons geschrieben stehen. Menschen, darunter viele Amerikaner, fassen sich an den Händen und singen. Wer will und sich angemeldet hat, der kann hier Kommunion feiern oder heiraten. Freilich muss er die Scharen der Touristen in Kauf nehmen, die das ganze Jahr hindurch anreisen.
Einen Spaziergang entfernt, direkt am Ufer des Sees, liegt die Primatskapelle, deren Vorgängerbauten bis ins vierte Jahrhundert zurückreichen. Die heutige Kirche errichteten Franziskaner 1934 aus schwarzen Basaltsteinen. Dort, wo sie steht, soll Jesus seinen Jüngern nach der Kreuzigung erschienen sein und Petrus die geistliche Führung der Christenheit übertragen haben (Johannes 21, 117). Nicht weit davon entfernt liegen Tabgha und die Brotvermehrungskirche mit dem berühmten Brot-und-Fisch-Mosaik. Aus fünf Gerstenbroten und zwei gesalzenen Fischen soll Jesus 5000 Menschen gespeist haben. "Und alle aßen und wurden satt" (Markus 6, 42).
Dass Jesus der Bibel nach zum Ostufer fuhr, Tabgha jedoch am Westufer liegt, weiß kaum eine der Pilgergruppen. Als das Ostufer im vierten Jahrhundert für Reisende zu gefährlich wurde, verlegte man den Ort der Wunder kurzerhand auf die bevölkerte Seite. Keinen stört das heute. Und womöglich ist es auch keine der Kirchen in Galiläa, von denen eine gewisse Spiritualität ausgeht. Es ist der See, in seinen stetig wechselnden Farben und dem Spiel der Wellen. Er bricht in den Rhythmus der Menschen ein, macht sie leichter und beschwingter als sie waren, bevor sie kamen. Der Kinneret ist eine Reise wert.