Hier scheint die Sonne 360 Tage im Jahr

| Lesedauer: 6 Minuten
Ralf Simon

Foto: Toni / usage Germany and Netherlands only

Ganz ehrlich: Es gibt für einen Kultureuropäer zuerst nur wenig Anlass, nach Miami zu reisen.

Ganz ehrlich: Es gibt für einen Kultureuropäer zuerst nur wenig Anlass, nach Miami zu reisen. Anders als etwa in Rom, Paris oder Madrid halten sich die visuellen Überraschungen in der 500 000-Einwohner-Stadt derart in Grenzen, dass auch bei größten Anstrengungen kaum etwas Neues zu entdecken ist. Dass Miami trotzdem jeden Urlauber ohne Rücksicht auf Stand und Brieftasche selbst nach nur wenigen Tagen schon entrückt nach Hause entlässt, liegt an einem Joker, der alles schlägt: ewiger Sommer.

Selbst die ungünstigsten Statistiken halten für Miami, dessen Name - als eine der wenigen Reminiszenzen vor Ort an die vertriebenen Ureinwohner - von dem indianischen Wort "Mayaimi", großes Wasser, abstammt, 360 Sonnentage bereit. Pro Jahr, und wohlgemerkt jedes Jahr aufs Neue. An den restlichen fünf Tagen beherrschen zwar unter Umständen Hurrikans die Wetterkarte, aber das muss nicht sein. Genau hier könnte man schon aufhören. Denn das genau ist es, worum es sich vor allem dreht. Egal, aus welcher Jahreszeit man selbst gerade anreist - in Miami ist immer Sommer, Strand, Sonne pur.

Natürlich besteht die Stadt nicht ausnahmslos nur aus einer Sinfonie aus Sonnen-Endorphinen und Strand. Dennoch bedeutet Miami zuallererst auch die benachbarte Stadt Miami Beach - etwa sechs Kilometer weiter nördlich auf einer Halbinsel gelegen und noch immer mit einem der schönsten Strände der zivilisierten, soll heißen bebauten Welt gesegnet. Dort gibt es Hunderte von Hotels, Restaurants und Nachtklubs und einen azurblauen, meist handwarmen Atlantik. Dort lebt die Stadt und rekelt sich jeden Morgen aufs Neue in einen wunderschönen Tag.

Sollten einen die angesichts dessen ad hoc einsetzenden Momente von Trägheit und Wohlsein dennoch wider Erwarten vom Ganzjahresstrand fernhalten, dann führt der Weg meistens zum sogenannten Art-déco-Viertel an der südlichen Spitze von Miami Beach. Dort befindet sich die nach Napier (Neuseeland) mittlerweile weltweit zweitgrößte zusammenhängende Ansammlung von Gebäuden in jenem Baustil, der Anfang des 20. Jahrhunderts seinen Ursprung in Wien nahm und im Paris der 20er-Jahre schließlich seinen weltweiten Triumphzug antrat. Dass Miami heute überhaupt Art déco als eine seiner wenigen erwähnenswerten architektonischen Schönheiten sein Eigen nennt, ist zuallererst einem der seltenen dortigen Schlechtwettertage zu verdanken.

1926 fegte ein Hurrikan die Mehrzahl der Holzhäuser am Strand in den Ozean, und der Zufall wollte es, dass der danach einsetzende Bauboom sich des gerade in die USA geschwappten Baustils bediente. Auch wenn einige der Gebäude ob des für Art déco typischen Fehlens eines eindeutigen Stilmittels wie aufgehübschte Weltkriegsbunker aussehen - sehenswert ist das farbenfrohe Viertel allemal. Und wer Zeit und Muße für eine der angebotenen Art-déco-Führungen hat, macht nichts verkehrt, wenn er dies auch tut. Zumal es sie nicht nur klassisch mit Touristenguide, sondern mittlerweile auch als Podcast für alle iPod-Nutzer gibt - und der Strand stets in der Nähe bleibt.

Selbstredend kann auch der schönste Strand auf Dauer sich alltäglich und so täuschend ewig anfühlen, dass sogar die hartnäckigsten unter den Sonnenanbetern eines Urlaubstages den Mut haben, sich weiter als gefühlte 100 Hotelmeter vom ewig lockenden Atlantik zu entfernen. Und vielleicht ist dies das Überraschendste an der Stadt. Denn Miami ist ein Chamäleon. Es ist Mykonos, Ibiza und die Côte d'Azur in einem. Das ganze Jahr über.

In Miami befindet sich mit der Lincoln Road eine der weltweit ersten designten und edel-europäischen Einkaufscenter ebenso wie die einkaufstechnisch entspannt anmutende Washington Avenue. Man kann ökologische Tauch- und Kanutouren in die vorgelagerte subtropische Küstenwildnis buchen (Crandon Park, North Beach), auf einem Kasinoschiff außerhalb der Drei-Meilen-Zone zocken ("Aquasino", Miami Beach Marina) oder mit einem Heißluftballon einfach dem Himmel über Miami ein Stück näher kommen (www.miamiskylift.com). Es gibt für Touristen Meeresfrüchte par excellence im "Sushisamba" (Lincoln Rd. 600) oder für alle Couragierteren im "Tap Tap", einem für Miami typischen, wenn auch versteckt liegenden Einwandererrestaurant, betörende und zudem auch noch lächerlich preiswerte karibische Küche (819 Fifth Street).

Es gibt das bisher noch von jedem Reiseführer als heimliches Kuba vollkommen überschätzte Viertel Little Havanna (8th Street, zwischen 14th and 17th Av.), voll mit gelangweilten Castro-Hassern. Und es gibt die Stadt Hialeah, die höchstens als Produktionsstandort für Orangina bekannt ist - wo die Exilkubaner noch singen, kochen und streiten wie ihre in der Heimat gebliebenen Cousins und Cousinen. Und natürlich, wie könnte es anders sein, einige einst unter Batista dienten und - natürlich - einige inzwischen statt Tellerwäschern nun Millionäre sind.

Selbst am Abend zeigt sich Miami unerwartet: Das abgedunkelte "The Room" (100 Collins Av.) ist ein überraschend touristenfreier Pub, während der Nobelklub "Set" (320 Lincoln Rd.) zwar keinen Eintritt, dafür aber ein schönes Gesicht und 300 US-Dollar für die preiswerteste Flasche Whiskey verlangt. Damit dies nicht nur nervlich gefestigte Personen ertragen können, wird allerdings in Plastikgläsern serviert, während die mondänen Echtledersitze des Klubs an manchen Ecken zerstochener daherkommen als die kunstledernen der Berliner S-Bahn.

Am Ende wirkt Miami, die einst den Mangrovensümpfen abgerungene Stadt, nie hochnäsig, findet irgendwie immer, bevor sie abhebt, zu sich selbst zurück und auf den Boden unter den Füßen. Wahrscheinlich sollte man Miami einfach nur als das nehmen, was es schon am ersten Tag beim Eintreffen auf dem Flughafen ist. Wenn die Automatiktüren wie die Kiemen träger Kaulquappen sich öffnen und schließen und dabei jedes Mal einen Schwall heißer Luft ins Innere pumpen: einfach ein Ort, an dem das Leben langsamer läuft und man seine Seele immer baumeln lassen kann.